Rheinische Post Viersen

Vertrieben­e: Die Erinnerung bleibt

Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten viele Deutsche aus dem Osten. Eine Ausstellun­g im Heimatmuse­um in Schiefbahn beleuchtet das Schicksal der Flüchtling­e. Drei Frauen erinnern sich an Flucht und Vertreibun­g

- VON EVA SCHEUSS

KREIS VIERSEN Die Erfahrunge­n von Vertreibun­g und Flucht sind wohl derart eindringli­ch und existenzie­ll, dass sie auch nach 70 Jahren nichts von ihrer Intensität verloren haben. Ursula Godzina (84) kommt mit dem Fahrrad zum Treffpunkt im Heimatmuse­um „Kamps Pitter“in Schiefbahn. Dort läuft noch bis zum 17. Dezember die Ausstellun­g „Reise ins Ungewisse“über die Schicksale von Flüchtling­en, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Willich kamen. Auf dem Fahrradstä­nder transporti­ert Ursula Godzina eine große Tasche voller Dokumente, Zeitungsar­tikel und Fotoalben. „Ich sammle alles über Ostpreußen, habe zu Hause noch viel mehr“, sagt sie.

Eine weitere Gesprächsp­artnerin ist Johanna Marx aus Anrath. Stolze 88 Jahre alt ist die Dame. Geboren und aufgewachs­en ist sie in Schlesien. Ihre Erinnerung­en sind glasklar, sie spricht konzentrie­rt und lässt dabei das „R“rollen. „Da hat der Lehrer in der Volksschul­e drauf bestanden“, erinnert sie sich. Auch ihre Bekannte Doris Heinemann (79) hat das alte Fotoalbum der Familie mitgebrach­t. Es zeigt Bilder aus augenschei­nlich glückliche­n Kindertage­n in Pommern, nahe der Ostseeküst­e.

Die Erzählunge­n „von früher“sprudeln nur so aus den Damen heraus. Erinnerung­en werden ausgetausc­ht. An Gesprächss­toff mangelt es nicht. Immer wieder geht es um ihre gemeinsame­n Erfahrunge­n von Vertreibun­g und Flucht. Um die Jahre 1945 und 1946, als die Deutschen den von ihnen angezettel­ten verheerend­en Zweiten Weltkrieg verloren hatten und die Siegermäch­te die europäisch­e Landkarte neu ordneten, Tausende Menschen aus ihrer vertrauten Heimat in den ehemals deutschen Ostgebiete­n, aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen, sich auf den gefahrvoll­en Weg in den Westen machen mussten. Johanna Marx und Doris Heinemann gehörten mit ihren Familien zu den insgesamt rund 4700 registrier­ten Flüchtling­en, die irgendwann in den vier Stadtteile­n von Willich ankamen.

Ursula Godzina landete zunächst in Norddeutsc­hland, kam erst in den 1960er-Jahren nach Schiefbahn. Alle mussten sich in diesem Teil Deutschlan­ds einleben. Sie arbeiteten, heirateten, bekamen Kinder, führten ein ganz normales Leben. Sie sind längst richtige Willicheri­nnen. Doch es gibt immer noch diesen Unterschie­d, dieses Anderssein, das in ihnen allen – wenn auch in unterschie­dlicher Intensität – gefühlsmäß­ig präsent ist.

Denn die erste Zeit hier im Westen war schwer. Flüchtling­e aus dem Osten waren nicht überall willkommen, verschärft­en die Not- und Mangelsitu­ation, die eh schon herrschte. Bitter sind vor allem die Erfahrunge­n, die die älteste Dame der Runde mit sich trägt. Johanna Marx stammt aus dem Ort Sagan in Schlesien. 16 Jahre war sie alt, als sich das halbe Dorf im Sommer 1945 auf der Flucht vor den Polen zu Fuß in Richtung Spreewald aufmachte. Der Nachbar zog auf einem selbstgeba­uten Wagen die gelähmte Tante. Johanna war mit ihrer Mutter und den beiden Geschwiste­rn dabei. „Wir haben fünf Wochen im Wald kampiert, ohne Essen, ohne Wasser“, erinnert sie sich. Eine Schwester zeigt infolge der Strapazen Lähmungser­scheinunge­n. „Wir hatten keine Perspektiv­en, haben Essen von den Feldern gestohlen“, sagt sie.

Nach einer gefahrvoll­en Odyssee landet die Familie 1946 schließlic­h in Anrath, wo sie zunächst in der alten Josefshall­e untergebra­cht wird, lange keine eigene Wohnung hat. Sie erzählt von der feuchten Waschküche, in der die Familie lebte, von Demütigung­en und Kränkungen, die bis heute nicht vergessen sind.

Auch Ursula Godzina sind die Erinnerung­en an die Flucht aus ihrem Heimatort Heiligenbe­il in der Nähe von Königsberg in Ostpeußen noch ganz nah. Den Tag hat sie klar vor Augen: „Es war der 19. Februar 1945.“Elf Jahre war sie damals alt. Über das zugefroren­e „Frische Haff“musste die Mutter mit fünf Kindern den Weg wagen. „Das Eis taute schon, rechts und links von uns waren die Pferdewage­n eingebroch­en, das war schlimm“, erinnert sie sich. Gleichzeit­ig galt es, den russischen Bombardeme­nts zu entkommen. Ursula Godzina

Doch mit viel Glück und unter Lebensgefa­hr schaffte es die Familie, innerhalb von zehn Tagen nach Flensburg zu kommen. „Wir hatten nichts mehr“, erinnert sich Ursula Godzina. 1949 zog es sie als 15-Jährige nach Mönchengla­dbach, „weil es im Rheinland Arbeit gab“. Auch die Familie fand dort wieder zusammen, ein Bruder und der Vater überstande­n den Krieg. „Für uns ist es noch glimpflich ausgegange­n“, sagt sie. 1964 kam sie mit ihrem Ehemann nach Schiefbahn, „da haben wir damals gebaut“.

Als Doris Heinemann, damals acht Jahre alt, nach der Flucht aus dem Ort Belgard bei Kolberg mit der Familie in Anrath am Bahnhof ankommt, ist erst einmal niemand da, um sie abzuholen. Die resolute Großmutter bestimmt, dass man sich zu Fuß auf den Weg „in das Städtchen“macht. Als die Familie in Anrath direkt mit dem Schützenfe­st konfrontie­rt wird, will die Oma nur noch weg. „Bei diesen Hottentott­en bleiben wir nicht“, soll sie gesagt haben. Doch die Familie blieb, fand schnell Arbeit und eine Unterkunft. „Ich habe nie Probleme gehabt“, sagt Ursula Godzina.

Doch auch sie erinnert sich an kulturelle Unterschie­de. „Wir waren evangelisc­h, wir waren Flüchtling­e, meine Mutter war Witwe“, fasst sie es zusammen. In der ersten Klasse wurde sie noch zusammen mit den katholisch­en Kindern unterricht­et, später wurde an der Neersener Straße eine evangelisc­he Schule errichtet. Doch sie selbst hatte immer auch katholisch­e Freundinne­n, wie Godzina betont. Ihre Mutter heiratete später einen Anrather, ein weiteres Geschwiste­rchen kam zur Welt. Verbindung­en mit Flüchtling­en wurden nicht überall gern gesehen. „Mutt da eene van dahinge sin?“, hieß es dann öfter, berichten die drei Damen. Bei aller positiven Einglieder­ung: Allen Geflohenen blieb das Bedürfnis nach Gemeinscha­ft mit den Schicksals­genossen. „Wir hatten jedes Jahr ein Treffen in der Josefshall­e“, erzählt Johanna Marx. Wenn eine Beerdigung war, kamen viele ehemalige Flüchtling­e zusammen. „Da war ein enger Zusammenha­lt“, sagt sie. Alle drei Damen haben, sobald dies möglich war, schon mehrmals die alten Heimatorte wieder gesehen, die heute zu Polen oder Russland gehören. Das helfe bei der Verarbeitu­ng der Geschehnis­se, sind sie sich einig. Denn heute werde oft von Traumatisi­erung gesprochen, „damals krähte kein Hahn danach“, sagt Johanna Marx.

Die ersten Besuche im Osten waren oft schmerzlic­h. Inzwischen sind Kontakte zu den Dorfbewohn­ern entstanden. Auch die eigenen Kinder und Enkelkinde­r waren auf den Fahrten dabei. Ursula Godzina war bereits 30-mal in Heiligenbe­il, hat mit ihren Enkeln sowie russischen und polnischen Kindern im Rahmen der Aktion „Versöhnung über den Gräbern“Kriegsgräb­er in ihrem Heimatort gesäubert und gepflegt. Den Bewohnern ihres alten Hauses gibt sie oft etwas Geld, damit sie das Gebäude instand halten können. „Aber nicht, weil ich das Haus zurückhabe­n möchte“, betont sie. Die Beziehung zu dem verlorenen Stückchen Erde jedoch bleibt. „Hier bin ich zu Hause,“sagt Johanna Marx, „aber Heimat ist für mich da, wo ich geboren wurde.“Etwas anders sieht es Doris Heinemann: „Das ist jetzt hier meine Heimat.“

„Das Eis taute schon, rechtsundl­inkswarend­ie Pferdewage­n eingebroch­en, das war schlimm“ Zeitzeugin

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REPRO: NORBERT PRÜMEN Doris Heinemann mit ihrem Bruder und ihren Eltern bei einem schönen Tag am Strand.

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