Rheinische Post Viersen

So viel verändert sich in 200 Jahren

Im Jahr 1817 hatte Bracht nur knapp 2000 Einwohner. Damals gab es keinen Arzt, aber viel Alkohol: Unter den Handwerker­n waren vier Branntwein­brenner und drei Brauer

- VON BIRGITTA RONGE

BRÜGGEN Man kann sich heute kaum vorstellen, wie die Menschen vor 200 Jahren gelebt haben. Bracht war damals eine selbststän­dige Gemeinde und hatte einen eigenen Bürgermeis­ter. Er war von Adel: Gottfried Alexander Xaverius von Voorst zu Voorst residierte im Kastell Schleverin­ghoven. Ein Bürgermeis­tergehalt bekam er übrigens nicht, ihm wurden lediglich die Bürokosten erstattet.

Der Bürgermeis­ter kümmerte sich um die Geschicke von 1982 Einwohnern in Bracht. Die meisten von ihnen lebten in den Sektionen, die es rund ums Dorf gibt, wie Alst, Boerholz oder Heidhausen. Nur 30 bis 35 Prozent der Einwohner wohnten im Dorf selbst.

Wie die Menschen vom Beginn der preußische­n Zeit 1815 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Bracht gelebt haben, hat die Kempener Historiker­in Ina Germes-Dohmen für die von ihr herausgege­bene „Brachter Ortsgeschi­chte“umfangreic­h beschriebe­n. Viel hat sich im Laufe der Zeit geändert, und wer heute durch eines der Dörfer im Grenzland spaziert, kann sich kaum vorstellen, wie es damals in den Straßen und Gassen ausgesehen haben mag.

Für das Jahr 1816 beispielsw­eise sind 584 Gebäude belegt, darunter 387 Wohnhäuser und 197 andere Gebäude, wie Schuppen oder Ställe. Doch nur 25 Gebäude sind aus massiven Ziegelstei­nen gefertigt, 549 Gebäude bestehen aus Fachwerk. Viele Häuser sind noch mit Stroh gedeckt, und kein Haus hat eine Feuerversi­cherung. Gut gewappnet gegen Brände ist die kleine Gemeinde Bracht aber nicht: Sie hat drei Feuerhacke­n und eine Feuersprit­ze, die etwa 515 Liter Wasser fasst. Lösch-Eimer gibt es nicht – wenn es brennt, müssen Einwohner die Eimer selbst herbeitrag­en. Das tun sie auch: Bricht ein Feuer aus, eilen Nachbarn zu Hilfe.

Nebenan leben ohnehin viele Menschen: In Bracht gibt es 1817 in 142 Häusern insgesamt 725 Einwohner, in Boerholz wohnen 349 Einwohner in 76 Häusern, in Alst 342 Einwohner in 78 Häusern. Unter den Gebäuden sind auch zwei Kirchen: die katholisch­e Kirche für 1828 Gläubige, das evangelisc­he Gotteshaus für 140 Gemeindegl­ieder. Außerdem leben im Jahr 1817 14 Juden in Bracht. Für die beiden christlich­en Konfession­en gibt es zwei Schulen. Das sind keine großen Gebäude, wie man sie heute kennt: Für die katholisch­e Schule sind Räume bei Heinrich Zoers an der Marktstraß­e angemietet worden, der Wirtschaft und Saal dort betreibt, wo sich heute die Ratsstube befindet. Dort unterricht­et ein Lehrer. Der zweite Brachter Lehrer führt die evangelisc­he Schule in einem Anbau an die Lehrerwohn­ung an der Marktstraß­e 6. Die Lehrer sind arm, auch das beschreibt Germes-Dohmen: Sie erhalten 1817 eine Sonderrati­on Ostseerogg­en, denn 1817 ist ein Hungerjahr: Die Ernte 1815 war schon schlecht ausgefalle­n, 1816 war es noch schlimmer. Hermann Hauser, der die Brachter Familiench­ronik von Franz Leonhard Erckens ausgewerte­t hat, berichtet, dass der Sommer 1816 verregnet war, es in Bracht von der Sommerkirm­es im Mai bis November nur mit einigen Unterbrech­ung praktisch ständig regnete. Die Maas trat dreimal über die Ufer und vernichtet­e die Heuernte – und in der Folge werden die Lebensmitt­el teuer. In Bracht wird 1817 Brot an Notleidend­e verteilt. Wer krank wird, muss einen Arzt in einem Nachbarort aufsuchen – zu Fuß oder mit dem Pferdekarr­en. 1817 gibt es nur einen einzigen Menschen im Ort, der medizinisc­h bewandert ist: die Hebamme Gertrud

Ninus. Die meisten Brachter leben 1817 von der Landwirtsc­haft. 350 Menschen

betreiben Ackerbau, hinzu kommen 280 Tagelöhner, die sich vermutlich ebenfalls überwiegen­d in der Landwirtsc­haft verdingen – bei knapp 40 Handwerker­n und zehn Kaufleuten im Ort wird es nicht viel Beschäftig­ung gegeben haben. Für 1817 werden 39 Gewerbetre­ibende genannt, zwei Jahre später sind es 46. Unter ihnen sind sieben Leineweber und zwei Töpfer. Für die Versorgung mit Lebensmitt­eln stehen drei Bäcker, zwei Metzger und zwei Müller zur Verfügung, außerdem kümmern sich sieben Personen um die Versorgung mit Alkohol: Es gibt vier Branntwein­brenner und drei Brauer. Wer ein Haus baut, kann auf fünf Zimmerleut­e und drei Maurer zurückgrei­fen, wer Kleidung benötigt, hat die Wahl zwischen fünf Schneidern und vier Schuhmache­rn. 200 Jahre später ist Bracht ordentlich gewachsen: Heute leben rund 6700 Menschen im Dorf und in den Sektionen. Bürgermeis­ter ist Frank Gellen (CDU), im Unterschie­d zu Baron von Voorst zu Voorst erhält er ein Gehalt. Die meisten Gebäude sind heute massiv gebaut, sie sind nicht mehr mit Stroh, sondern mit Ziegeln gedeckt. Sollte es brennen, rufen die Einwohner die Freiwillig­e Feuerwehr. Immer noch gibt es zwei Schulen in Bracht – allerdings unter deutlich besseren Bedingunge­n als 1817: Es gibt eine katholisch­e Grundschul­e, die alle Kinder besuchen können. Dort werden 204 Schüler unterricht­et, zwölf Lehrer gehören zum Kollegium. Außerdem hat die Gesamtschu­le Brüggen für die Jahrgänge fünf bis acht einen Standort in Bracht. Wer heute im Dorf krank wird, muss beim Nachbarn nicht fragen, ob der ihn mit dem Pferdekarr­en ins Nachbardor­f bringt – Ärzte haben ihre Praxen im Ort. Eine Mühle gibt es noch, doch die ist nicht mehr in Betrieb, sondern wird als Heimatmuse­um genutzt. Weiterhin können Brachter ihre Lebensmitt­el im Ort kaufen, bieten Handwerker ihre Leistungen an. Hochprozen­tiges gibt es in den Gaststätte­n selbstvers­tändlich auch noch – selbst wenn es nicht mehr aus eigener Produktion stammt. InfoDas Buch „Bracht. Geschichte einer niederrhei­nischen Gemeinde von der Frühzeit bis zur Gegenwart“, herausgege­ben von Ina Germes-Dohmen, ist für 25 Euro in der Brachter Mühle, Brüggener Straße 13, erhältlich sowie im Buchhandel (ISBN 978-3-944146-81-2).

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FOTOS:BONSELS/ARCHIV FEYEN/GEMEINDE BRÜGGEN/A. BREUER Oben links: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die zentrale Wasservers­orgung aufgebaut. Oben rechts: Die evangelisc­he Schule lag an der Marktstraß­e 6. Gegenüber, bei Wirt Heinrich Zoers, befand sich die katholisch­e Schule. Unten links: Die meisten...
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