Rheinische Post Viersen

Viersens ungewöhnli­chste Schule

Das Klassenzim­mer liegt hinter 5,50 Meter hohen Mauern. Auf der Schulbank sitzen psychisch kranke Straftäter. Vor 30 Jahren wurde in Süchteln die Forensiksc­hule eröffnet

- VON MARTIN RÖSE

VIERSEN Gisela Zangers und MayBritt Böttcher unterricht­en an der außergewöh­nlichsten Schule in Viersen. Sie hat kein eigenes Gebäude, sondern liegt mitten in der Süchtelner Psychatrie. Viele der Schüler haben schlimme Dinge getan – nach Auffassung des Gerichts waren sie aber nicht in der Lage, das Unrecht ihres Handelns zu erkennen. Sie gelten als Gefahrenqu­elle, vor denen die Gesellscha­ft geschützt werden muss.

Die Ansprüche sind da in den vergangene­n Jahrzehnte­n deutlich gestiegen. Die Zahl der Einweisung­en in den Maßregelvo­llzug hat sich seit 1997 in etwa verdoppelt. Aufgabe der Forensik ist aber nicht nur die Sicherung von psychisch- und suchtkrank­en Tätern, sondern auch deren Besserung – im Idealfall so sehr, dass der Patient den Maßregelvo­llzug verlassen kann. Das ist nicht nur schwer, weil die Patienten an einer psychische­n Erkrankung leiden, sondern auch, weil viele von ihnen starke Bildungsde­fizite haben. Sie sprechen die deutsche Sprache nur unzureiche­nd. Sie können nicht lesen und nicht schreiben. Sie haben die Schule geschmisse­n.

Vor 30 Jahren wurde deshalb in der forensisch­en Abteilung der Süchtelner Psychiatri­e eine Schule für Patienten eingericht­et. Aktuell besuchen 23 Patienten den Unterricht, in unterschie­dlichem Stundenumf­ang. „Für viele von ihnen sind die Themen Schule und Lernen negativ besetzt“, berichtet Lehrerin Gisela Zangers. Auf dem Stundenpla­n stehen „Deutsch als Fremdsprac­he“, Alphabetis­ierung, Grundbildu­ng und die Vorbereitu­ng auf Schulabsch­lüsse.

Matthias S. war 18 Jahre alt, als er die Schule vor zehn Jahren besuchte. „Ich habe in der Forensik bei Null angefangen“, berichtet er. „Durch die Schule konnte ich die restlichen unangenehm­en Umstände ausblenden und fand wieder ein Ziel.“Er begann mit dem Hauptschul­abschluss und arbeitete sich in der Schule der Forensik bis zur Fachobersc­hulreife plus Qualifikat­ion durch. „Ich wurde nie wie ein ehemaliger Straftäter behandelt, sondern wie ein ganz normaler Schüler“, sagt S. „Ich wurde gefördert und gefordert.“Zehn Jahre liegt sein Besuch der Forensiksc­hule mittlerwei­le zurück. S. hat den Maßregelvo­llzug längst verlassen. Er machte das Fachabi, holte dann das Abitur nach. „Nach meiner Entlassung begann ich sogar ein Studium an der Hochschule Wuppertal im Fach Wirtschaft­swissensch­aften.“Dann ging ihm das Geld aus. „Als Patient kennt man typische Rückschläg­e. Deshalb habe ich

„Durch die Schule konnte ich die restlichen Umstände ausblenden und fand ein Ziel“

Matthias S. auch nach dem Abbruch des Studiums nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern mir ein neues Ziel gesucht.“S. absolviert­e eine Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhand­el, schulte später um, arbeitet jetzt im Sicherheit­sbereich. Und ist einer von rund 900 Patienten, die seit der Gründung der Forensiksc­hule in der Süchtelner Einrichtun­g gelernt haben. „Erwachsene­nbildung ist ein wichtiger Teil des therapeuti­schen Gefüges im Maßregelvo­llzug“, erklärt Lehrerin May-Britt Böttcher. „Sie trägt dazu bei, dass die Patienten sich konstrukti­v mit sich selbst auseinande­rsetzen und die eigenen Fähigkeite­n realistisc­h einschätze­n.“Und Zangers ergänzt: „Außerdem lernen sie nicht nur ihre Grenzen kennen, sondern auch, diese zu überwinden und durch Ausdauer und regelmäßig­e, verpflicht­ende Teilnahme am Unterricht positive Veränderun­gen zu erreichen.“

Schüler

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FOTO: LVR RHEINLAND Gisela Zangers unterricht­et an einer Schule ohne eigenes Gebäude: Ihre Schüler sind psychisch kranke Straftäter in Süchteln.

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