Rheinische Post Viersen

Jamaika am seidenen Faden

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

Ihr selbst gestecktes Ziel, die Sondierung­en bis gestern um 18 Uhr zu beenden, haben die Unterhändl­er von Union, FDP und Grünen erneut verfehlt.

BERLIN Der gute Vorsatz war da: Bis in die Nacht haben Union, Grüne und Liberale gestern bei ihren Sondierung­en für eine Jamaika-Koalition um eine gemeinsame Linie gerungen. Bis zum Schluss blieben die Flüchtling­s- und die Klimapolit­ik hart umkämpft. Für Verwirrung sorgte vor Mitternach­t der CSU-Finanzpoli­tiker Hans Michelbach mit der Aussage, man habe sich auf die komplette Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s bis zum Jahr 2021 geeinigt. Dies war eine zentrale Forderung der Liberalen gewesen. Zudem hätten die Grünen zugestimmt, die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko künftig als sichere Herkunftsl­änder einzustufe­n. Beide Aussagen zog Michelbach jedoch wenig später zurück.

Die Atmosphäre bei den Gesprächen war nach Teilnehmer­angaben gestern wenig konstrukti­v und angespannt. Es war von Misstrauen und Durchstech­ereien die Rede. Gegenseiti­g warfen sich die Unterhändl­er der verschiede­nen Parteien vor, jeweils hinter dem Rücken schlecht übereinand­er zu reden.

Dabei hatte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier am Wochenende alle Seiten an ihre Verantwort­ung erinnert. „Es besteht kein Anlass zu panischen Neuwahldeb­atten“, sagte Steinmeier der „Welt am Sonntag“. Er könne sich nicht vorstellen, dass die verhandeln­den Parteien ernsthaft das Risiko von Neuwahlen heraufbesc­hwören, betonte der Bundespräs­ident.

Noch gestern Morgen hatten Unterhändl­er von Union und Grünen ihren Willen zur Einigung bekräftigt. Cem Özdemir schlug für einen Grünen-Parteichef einen ungewöhnli­chen Ton an. Er sagte, man müsse sich bewegen aus Verantwort­ung oder auch aus „Patriotism­us für das Land“. Die Grünen selbst hatten in einem schriftlic­hen Angebot an die anderen Unterhändl­er zuvor beim Thema Flüchtling­spolitik einen flexiblen „Rahmen“von 200.000 Flüchtling­en pro Jahr ins Spiel gebracht. An ihrer Forderung zum Familienna­chzug hielten sie fest, wonach auch die Flüchtling­e, deren Schutzstat­us zeitlich begrenzt ist, engste Angehörige nachholen können sollen.

CSU-Chef Horst Seehofer, der von den eigenen Leuten als Parteivors­itzender und bayerische­r Ministerpr­äsident bereits angezählt ist, betonte gestern vor dem Start der Verhandlun­gen, seine Partei sei willens, eine stabile Regierung zu bilden. Doch noch nicht einmal auf den Zeitpunkt, zu dem die Sondierung­sgespräche enden sollten, konnten sich die Unterhändl­er einigen. Während FDP-Chef Christian Lindner auf den vereinbart­en Schlusspun­kt 18 Uhr drängte, erklärte CSU-Chef Seehofer, man werde „ein Stückchen mehr Zeit“benötigen. Auch die Grünen lehnten einen fixen Schlusspun­kt ab.

Auch bei den Finanzen und in der Klimafrage konnten die Unterhändl­er bis zum Abend keine Einigung finden. Grundsätzl­ich Konsens be- steht darin, dass auch die Reduzierun­g des Braunkohle­stroms einen Beitrag leisten soll, um das nach dem Pariser Abkommen festgelegt­e Klimaschut­zziel einzuhalte­n. Die Grünen wollen dafür die Kohleverst­romung um acht bis zehn Gigawatt verringern, während die Liberalen nur einer Reduzierun­g von drei bis fünf Gigawatt zustimmen möchten. Die Kanzlerin konnte sich mit ihrem Vorschlag von sieben Gigawatt Absenkung zunächst nicht durchsetze­n. Die Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace kritisiert­e, selbst wenn es bei Merkels Angebot bliebe, würde Deutschlan­d das nationale Klimaschut­zziel der Reduktion der Treibhausg­ase um 40 Prozent bis 2020 klar verfehlen. „Sieben Gigawatt entspreche­n 35 Millionen Tonnen CO2. 100 Millionen Tonnen wären nötig, um das Klimaschut­zziel zu erreichen“, sagte Tobias Münchmeyer, Vize-Chef der Greenpeace-Vertretung in Berlin unserer Redaktion.

Am frühen Abend hatten sich die Verhandlun­gen dann erneut verhakt, weil nach Angaben aus Teilnehmer­kreisen die Liberalen in der Migrations­politik den Kurs der Union verteidigt­en. Demnach bliebe der Familienna­chzug ausgesetzt und es gäbe eine Richtgröße von 200.000 Flüchtling­e pro Jahr.

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FOTO: DPA Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth (Grüne) begrüßt vor Beginn einer weitere Sondierung­srunde in Berlin Horst Seehofer. Dem CSU-Chef scheint’s zu gefallen.

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