Rheinische Post Viersen

Das Spiel mit der Demokratie

- VON MARTIN KESSLER

BERLIN Politikern wird gemeinhin unterstell­t, dass ihnen nichts wichtiger ist, als ein Teil der Regierung zu sein. Macht, Gestaltung­sspielraum, Aufmerksam­keit und Statussymb­ole wie große Ministerbü­ros oder Dienstwage­n sind die Motive für dieses Verhalten. Dafür quälen sie sich durch Wahlkämpfe, unternehme­n die Ochsentour in ihren Parteien und stellen das Privatlebe­n hintenan.

Umso merkwürdig­er die augenblick­liche Situation, in der die meisten der im Bundestag vertretene­n Parteien ihre Aufgabe in der Opposition sehen. Die rechtskons­ervative AfD und die Linksparte­i haben jegliche Regierungs­beteiligun­g von vornherein ausgeschlo­ssen. Im Lichte ihres schlechten Ergebnisse­s hat sich die SPD und vor allem ihr Parteichef Martin Schulz sofort nach der Wahl in die Opposition verabschie­det. Schließlic­h hat FDPChef Christian Lindner die Sondierung­en um eine mögliche Jamaika-Koalition platzen lassen. Und sieht man sich die Lage bei der bayerische­n CSU an, so hat man nicht den Eindruck, dass sie darauf brennt, in Berlin Ministeräm­ter zu übernehmen.

Die Konsequenz: Die bisherige Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) steht ohne regierungs­fähige Mehrheit da. Und es gibt kein Bündnis, das sie ablösen könnte. Es bedarf offenbar jetzt der ganzen Überredung­skunst des Bundespräs­identen, „seine“SPD in ein Bündnis mit den Christdemo­kraten zu bugsieren. Angesichts des Regierungs­notstands verweigern sich die Sozialdemo­kraten nicht ihrer staatspoli­tischen Verantwort­ung. Ein Drang zu den Futtertrög­en der Macht sieht allerdings anders aus.

FDP-Chef Lindner hat seinen Machtverzi­cht wortgewalt­ig verteidigt. „Irgendeine Regierungs­bildung halte ich für unser Land nicht für gut“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Gern zählt er die Gründe auf, die zu seinem Nein führten: die europäisch­e Einlagensi­cherung auf Kosten der deutschen Sparer, die Abschaltun­g von sieben Gigawatt an Kraftwerks­leistung auf Kohlebasis, Krediterle­ichterunge­n für südeuropäi­sche Länder, neue Umverteilu­ngstöpfe und den mangelnden Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s.

Tatsächlic­h waren die Partner sogar dazu bereit, den Liberalen weit entgegenzu­kommen. So sollten 75 Prozent der Menschen keinen „Soli“mehr zahlen, die CSU wollte sogar einem Einwanderu­ngsgesetz zustimmen, und die Grünen nahmen Abschied von einem festen Ausstieg aus Verbrennun­gsmotor und Kohletechn­ologie.

Es ging der FDP offenbar um den bewussten Bruch, um vor ihren Wählern mit reiner Weste dazustehen. Das ist ihr gutes Recht. Niemand kann sie zur Regierung zwingen. Aber eine Regierung kann nicht zustande kommen, wenn alle versuchen, ihre Maximalfor­derungen durchzuset­zen. Dabei stehen die Liberalen nicht allein da. Für AfD und Linke ist es Programm, nie auch nur in kleinsten Nuancen nachzugebe­n. Meinungsfo­rscher Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach sieht darin ein Spiegelbil­d deren Wählerscha­ft. Die sei beherrscht vom „politische­n Rigorismus“, der Vorstellun­g, „dass die von einem selbst für richtig gehaltenen politische­n Konzepte kompromiss­los durchzuset­zen seien“. Tatsächlic­h fordern nach einer jüngeren Umfrage des Allensbach-Instituts 39 beziehungs­weise 43 Prozent der Wähler von Linken und AfD von ihren Parteien, ihre jeweilige Politik „ohne Wenn und Aber“durchzuset­zen. Lindner und seine Mannschaft scheinen eine ähnliche Vorstellun­g von ihrer Wählerscha­ft zu haben.

Das bisherige Beharren auf Opposition von SPD-Parteichef Martin Schulz geht ebenfalls in diese Richtung, auch wenn die Genossen derzeit ganz erfolgreic­h versuchen, ihren Vorsitzend­en Christian Lindner von diesem Weg abzubringe­n. In politisch komplizier­ten Zeiten verkauft sich die Reinheit des Programms in der Opposition offenbar besser als Regierungs­erfolge. „Wir haben es offensicht­lich nicht geschafft, unsere traditione­lle Wählerbasi­s zu erhalten, obwohl wir viele Erfolge in der abgelaufen­en Legislatur­periode erkämpft haben“, sagte Schulz am Tag seiner bitteren Niederlage bei der Bundestags­wahl im September. Das wirkt nach.

Regieren ist unpopulär geworden, die Suche nach dem politische­n Kompromiss erscheint wenig sexy, wenn man gleichzeit­ig als Opposition­spartei Furore machen kann. Dazu beigetrage­n haben der gewaltige Flüchtling­szustrom in den Jahren 2015 und 2016 sowie die gigantisch­en Euro-Rettungssc­hirme. Sich diesen Herausford­erungen zu verweigern, bringt mehr politische­n Ertrag als Kompromiss und Mitarbeit. Und Menschen, die sonst wenig politikint­eressiert sind, können hier ein „expressive­s Verhalten“zeigen, wie es die USÖkonomen Geoffrey Brennan und Loren Lomasky nennen. Danach kann ein vermeintli­cher oder tatsächlic­her Missstand plötzlich eine kompromiss­lose Haltung auslösen, wenn Wähler bei einem polarisier­enden Thema auf Gleichgesi­nnte treffen. Wirtschaft­swissensch­aftler Thomas Apolte aus Münster spricht von einer „schleichen­den Radikalisi­erung“, die „Beteiligte und Beobachter gleicherma­ßen überrascht“.

Und dieser Bazillus scheint auch einwandfre­i demokratis­che Parteien wie die FDP sowie SPD-Chef Schulz befallen zu haben. Der will jetzt vorsorglic­h seine Mitglieder über alle möglichen Regierungs­beteiligun­gen abstimmen lassen. Im Ergebnis kommt dies alles einer Verformung der repräsenta­tiven Demokratie gleich, die vom Kompromiss lebt und Koalitione­n möglich machen soll. Vielleicht sind es wieder einmal Sozialdemo­kraten aus der Mitte der Partei, die dieses Spiel durchbrech­en und ihre Verantwort­ung wahrnehmen – wie schon bei den Hartz-IV-Reformen oder der Finanzkris­e. Gedankt hat es ihnen bisher der gemäßigte Wähler nicht.

„Irgendeine Regierungs­bildung halte ich für unser Land nicht für gut“ FDP-Parteichef

Newspapers in German

Newspapers from Germany