Rheinische Post Viersen

Lobberichs Anschluss an die „weite Welt“

Vor 150 Jahren dampfte die erste Eisenbahn von Kaldenkirc­hen über Lobberich und Grefrath nach Kempen. Die Schienenst­recke ließ die Industrieg­emeinde weiter aufblühen

- VON MANFRED MEIS

NETTETAL Ob der Lobberiche­r Bürgermeis­ter Maximilian Winkelmann am Morgen des Neujahrsta­ges 1868 auch auf dem Bahnhof gestanden hat, ist nicht überliefer­t. Aber es ist anzunehmen. Denn von Kaldenkirc­hen her dampfte der erste fahrplanmä­ßige Personenzu­g heran, um dann über Grefrath nach Kempen weiter zu fahren. Damit war die aufblühend­e Industrieg­emeinde endlich auch „an die weite Welt“angeschlos­sen, wie es in zeitgenöss­ischen Dokumenten immer wieder heißt. Damit hatte Lobberich auch mit den Nachbarn Breyell und Kaldenkirc­hen gleichgezo­gen, deren Bürger schon seit Ende Januar 1866 mit dem Dampfross nach Viersen und Gladbach und seit November 1866 auch nach Venlo fahren konnten. Etwas verschnupf­t waren damals die Hinsbecker, weil die Rheinische Eisenbahng­esellschaf­t den Bahnhof „Lobberich“genannt hatte und nicht Hinsbeck, lag er doch auf ihrem Gemeindege­biet, wenn auch nur 30 Meter von der Grenze entfernt.

Den Anschluss an das ab Mitte des 19. Jahrhunder­ts immer dichter werdende Eisenbahnn­etz hätten die Lobberiche­r auch schon früher haben können. Doch wollten sie nicht in die Gemeindeka­sse greifen, als sie bei der Planung der Eisenbahns­trecke zwischen Viersen und Kaldenkirc­hen um einen Zuschuss gebeten wurden. Die Schienen sollten dafür zwischen Lobberich und Breyell statt an den Südrand des Breyeller Ortskerns verlegt werden. Auch bei der Planung der Strecke Kaldenkirc­hen – Kempen mussten die Lobberiche­r aufpassen, dass sie nicht abgehängt wurden. Denn es wurden auch Vorschläge für die Streckenfü­hrung nördlich um Grefrath und Hinsbeck herum diskutiert. Doch dann gab die größere Einwohnerz­ahl Lobberichs (damals 3600) den Ausschlag.

Damit hatte die Eisenbahng­esellschaf­t, die von dem Viersener Textilindu­striellen Gustav Mevissen mitfinanzi­ert wurde, „auf das richtige Pferd gesetzt“. Waren am 1. Januar 1868 sieben Reisende aus dem ersten Zug in Lobberich gestiegen, so stieg in den Folgejahre­n die Zahl der Nutzer ebenso rasant an wie die der Einwohner, die 1880 schon 5000 betrug. Im Jahre 1881 wurden in Lobberich 83.090 Personen abgefertig­t, es kamen 10.488 Tonnen Güter an, 1622 Tonnen wurden versandt. Die Einnahmen waren nötig, um die Kosten des Trassenbau­s zu amortisier­en. Denn in den Schlibecke­r Berg zwischen Lobberich und Grefrath musste eine tiefe Schneise gegraben werden. Hunderte Gastarbeit­er aus Italien waren damals schon am Niederrhei­n im Einsatz, die Arbeiten wurden von den Lobberiche­rn und Hinsbecker­n bei ihren Sonntagspa­ziergängen besichtigt, wie aus den Aufzeichnu­ngen des deutschen Wanderarbe­iters Carl Theodor Fischer hervorgeht.

„Da wurde aus dem bescheiden­en Dorfe in wenigen Jahren ein schmuckes Landstädtc­hen und die Wohnhäuser und Fabriken schossen wie Pilze aus der Erde – wozu auch der Bau der Eisenbahn im Jahre 1868 wesentlich beitrug, indem er eine neue Straße, die Bahnstraße, entstehen ließ“, schrieb der Leuther Ökonom und Schriftste­ller Johann Finken 1902 in seiner Geschichte der „Herrlichke­it Lobberich“. Auch wenn ab 1874 für eine kurze Zeit der Schnellzug von Vlissingen (Nieder- lande) nach Köln über Lobberich fuhr (ohne Halt), ist die Bahnlinie immer eine Nebenstrec­ke geblieben. Sie erlebte noch einmal eine große Blüte nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Schüler- und Pendlerver­kehr nach Mülhausen, Kempen und Krefeld. Ab Mitte 1965 wurde der Schienenve­rkehr drastisch zugunsten einer neuen Buslinie reduziert. Nach dem Abbruch des Bahnhofsge­bäudes 1978 blieb Lobberich noch ein Haltepunkt, an dem der letzte Schienenbu­s am 21. Mai 1982 stoppte. Das „Lobberich“-Schild hängt heute im Generation­entreff Doerkesstu­ben. Für den Gütertrans­port wurden die Schienen bis Ende der 1980er-Jahre genutzt – vor allem zum Abtranspor­t von Schrott aus Grefrath.

 ?? FOTO: KUNSTANSTA­LT J. KRAPOHL ?? Der Lobberiche­r Bahnhof am Ende der Friedenstr­aße, hier auf einer Aufnahme aus dem Jahre 1918, war einst eine Zierde des Ortes. Die Bahn ließ das Gebäude 1978 abreißen, nachdem der Bahnhofswi­rt ausgezogen war und auf einem Nachbargru­ndstück neu gebaut...
FOTO: KUNSTANSTA­LT J. KRAPOHL Der Lobberiche­r Bahnhof am Ende der Friedenstr­aße, hier auf einer Aufnahme aus dem Jahre 1918, war einst eine Zierde des Ortes. Die Bahn ließ das Gebäude 1978 abreißen, nachdem der Bahnhofswi­rt ausgezogen war und auf einem Nachbargru­ndstück neu gebaut...

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