Das Haus der 20.000 Bücher
Prolog I Abschied Es kommt mir vor, als ob er entweder sich als einen Teil der Bücher oder die Bücher als einen Teil von sich betrachtete.
William Morris, Kunde von Nirgendwo (1890)
Nichts auf Erden klingt wie die Trauer, die mit elementarer Wucht aus einem für gewöhnlich zurückhaltenden, würdevollen Mann herausbricht. Nichts lässt sich damit vergleichen – weder das Kratzen von Fingernägeln über eine Schiefertafel noch das Surren eines Bohrers, der den Zahnschmelz durchdringt. Nichts. Es ist das Heulen allumfassenden Grauens, ein schwarzes Loch lauten Wehklagens, das alles in sich aufsaugt. Es reißt dich in den Abgrund – so ganz anders als alles Gewohnte, duldet es keinen Widerspruch. Dies hier, verkünden die Laute, hat mit der Ewigkeit zu tun.
Solche Laute hörte ich, als ich im März 2010 das Telefon an mein linkes Ohr hielt. Ich war zu Hause in Sacramento, Kalifornien, und kauerte niedergeschlagen auf einem Sofa im Fernsehzimmer; meine Frau und meine Kinder hielten sich in einem anderen Raum auf. In sechstausend Meilen Entfernung saß mein Vater neben seinem toten Vater in dessen Haus im Hillway 5 in Highgate, im Norden von London. Ein paar Minuten zuvor war mein Großvater Chimen Abramsky gestorben. Woran? An Altersschwäche? Er war dreiundneunzig Jahre alt. An Parkinson? Er war seit Jahren dahingesiecht – ein gebrechlicher, tauber alter Mann, ein Witwer, der mit versteinertem Gesicht in einem versehrten, erstarrenden Körper in zunehmendem Maße eingeschlossen war. Oder infolge einer furchtbaren Serie von altersbedingten Krankheiten und Infektionen, von denen ihn jede einzelne hätte töten können? Doch letztlich war es unerheblich, was den Ausschlag gegeben hatte. Was zählte, war die Tatsache, dass der Letzte unter meinen Großeltern gestorben war. Er war mein Lehrer, Ratgeber und Guru gewesen, dazu mein „Nye“. Diesen Namen hatte ich als Kleinkind für ihn erfunden, denn er trug stets eine Krawatte, und ich konnte das Wort „Tie“nicht aussprechen. Mein wunderbarer, bisweilen zu Scherzen aufgelegter Großvater – der alte Mann, der mit einem hohen Stapel bunter, ineinandersteckender Plastikbecher auf dem Kopf im Esszimmer herumtanzte, um mich als Kind zum Lachen zu bringen – war nicht mehr. Der Mann, der sich mit Zehntausenden außerordentlich seltenen Büchern, erworben im Laufe eines Dreivierteljahrhunderts, umgeben hatte, war verschwunden. Alles, was ihn ausgemacht hatte, was er war, hatte der wächsernen, unpersönlichen Stille des Todes weichen müssen.
Mir kamen die Tränen, und als ich von Schluchzern geschüttelt wurde, schwebte ein Teil von mir in die Höhe, blickte hinunter und fragte sich, warum ich eigentlich so bestürzt war. Schließlich hatte ich reichlich Zeit gehabt, mich auf meine Trauer vorzubereiten: Chimens Verfall hatte sich langsam vollzogen, seine letzten Monate waren voller Schmerzen und Demütigungen gewesen, jeder Anruf bei meinen Eltern oder Geschwistern wurde durch einen aktuellen Bericht über sein kraftloses Festhalten am Leben eingeleitet. Er war in jenen letzten Jahren zu einer Coda seiner eigenen Geschichte geworden.
Im 17. Jahrhundert hatte der französische Philosoph René Descartes den berühmten Schluss gezogen: „Ich denke, also bin ich.“Für Chimens Leben hatte, während er systematisch sein Haus der Bücher aufbaute, überwiegend das Gegenteil gegolten. Er war, und deshalb dachte er – hätte er nicht gedacht, gelesen, die Welt um sich herum analysiert und die Geschichte, aus der jene Welt erwuchs, wäre aus ihm eine verlorene Seele geworden. Denn er hatte sich nie sehr gut darauf verstanden, einfach nur Däumchen zu drehen. Aber nun war seine Gesundheit durch die ParkinsonKrankheit zerstört, er hatte sein Gehör verloren und war nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen, um zu einem seiner geliebten Spaziergänge aufzubrechen. Er wurde zu einem Gefangenen: Sein Geist war in seinem leidenden Körper eingesperrt und der Körper in seinem Haus der Bücher abgekapselt. Nach und nach schrumpfte sein Bewegungsradius, und eines Tages war er nicht mehr in der Lage, die Treppe hinaufzusteigen. Seine Welt war nun auf die kleinen Zimmer voller Bücher im Erdgeschoss seines Hauses beschränkt. Dieses Haus hatte einst einen der großen Salons der Londoner Linken beherbergt und enthielt immer noch eine der bedeutendsten Privatbibliotheken Englands. Inzwischen konnte man darin Platzangst bekommen. Chimens Zuhause, in dem es in meiner Kindheit vor intellektuellem Leben gesprüht hatte, wirkte zunehmend beklemmend, heruntergekommen – ein Ort, den ich mit meinen Kindern nicht freudig, sondern aus Pflichtgefühl aufsuchte. Lebhafte Unterhaltungen waren von langen Phasen des Schweigens abgelöst worden, was an Chimens Alters- taubheit lag; die einstige Geschäftigkeit in der überfüllten Küche und die Horden von Gästen, die zum Essen oder über Nacht blieben, waren einer dem Parkinson geschuldeten Stille gewichen.
Die kartesische Gleichung löste sich schließlich von selbst: In dem Maß, in dem Chimen sich bemühte, sein Leben und seinen Verstand im Griff zu behalten, verstärkte sich seine Besessenheit von der Welt der Bücher, die er für sich geschaffen hatte, sogar noch. Wie ein Mensch, der sich in den Arm kneift, um sicherzugehen, dass er noch etwas spürt, las Chimen, um sich zu vergewissern, dass er noch lebendig war. Er dachte, also war er. In den Jahren seines körperlichen Verfalls gab seine Denkfähigkeit ihm Kraft, er klammerte sich an seine außerordentlichen intellektuellen Fähigkeiten und an sein beinahe fotografisches Gedächtnis: Als eine Sozialarbeiterin, die herausfinden sollte, wie es um sein Denkvermögen bestellt war, ihn fragte, ob er wisse, wer der derzeitige Premierminister sei, erwiderte Chimen in vernichtendem Tonfall, er könne sämtliche Premierminister der vergangenen zweihundert Jahre aufzählen. Doch ganz am Ende seines Lebens ließ sein Gedächtnis ihn im Stich. Nachdem er körperlich bereits gebrochen war, verwirrte sich schließlich auch sein Geist.
Chimens allmähliches Verschwinden hatte mich bereits seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, tief bekümmert; es handelte sich um jenes der Trauer ähnliche Gefühl, das Lebenden gilt und einen stets unerwartet und in unpassenden Momenten erwischt. (Fortsetzung folgt)