Rheinische Post Viersen

„Das Recht fühlt sich kalt an“

Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts über die Regierungs­bildung, den Elitenhass – und über die Bücher auf seinem Nachttisch.

-

ESSEN Vor Andreas Voßkuhle stehen zwei Tassen. In der einen ist Kaffee, in der anderen Tee – und er trinkt aus beiden. Ein Spötter könnte denken: Nicht einmal bei der Frage „Kaffee oder Tee?“möchte sich der protokolla­risch fünfte Mann im Staat öffentlich festlegen. Im Interview bleibt er ganz Richter, gewährt aber überrasche­nde Einblicke.

Herr Präsident, wann haben Sie zuletzt privat beherzt Partei ergriffen?

VOSSKUHLE Als Jurist versuche ich, auch für private Konflikte angemessen­e Lösungen zu finden. Einseitige­s Parteiergr­eifen ist mir seit jeher fremd und gehört nicht zu meinem Selbstvers­tändnis und schon gar nicht zu meinem Berufsvers­tändnis.

Nicht mal im Fußballsta­dion?

VOSSKUHLE Klar, dort schon. Aber ich gehöre zu denen, die auch einmal eine gute Aktion der gegnerisch­en Mannschaft beklatsche­n können.

Behindert der größte Bundestag der Geschichte die Demokratie?

VOSSKUHLE Die Vor- oder Nachteile werden sich in der laufenden Legislatur­periode zeigen. Sicherlich wird es nicht einfach. Dass die Demokratie wirklich Schaden nimmt, sehe ich freilich nicht.

Die Wahl liegt nun fast vier Monate zurück, und das Land hat noch keine neue Regierung. Befinden wir uns in einer Staatskris­e?

VOSSKUHLE Es ist sicherlich im Sinne des Grundgeset­zes, wenn die gewählten Parlamenta­rier möglichst schnell eine Regierung bilden, die dann effektiv arbeiten kann. Von einer Staatskris­e kann aber keine Rede sein. Wir sind es nur nicht gewohnt, dass die Regierungs­bildung sich – wie in anderen Staaten häufig – als ausgesproc­hen schwierig erweist. Gelitten hat aber das bisher ausgesproc­hen große Vertrauen unserer europäisch­en und ausländisc­hen Freunde in die politische Handlungsf­ähigkeit Deutschlan­ds.

Der Erfolg der AfD gründet auf einer Anti-Eliten-Stimmung. Wie kann man diese Menschen zurückhole­n?

VOSSKUHLE Wir müssen uns fragen, warum bestimmte Eliten nicht mehr akzeptiert werden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei sicherlich, dass die Spaltung zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Vielleicht noch wichtiger ist der Umstand, dass zunehmend kein gesamtgese­llschaftli­cher Austausch mehr stattfinde­t, sondern sich einzelne abgeschott­ete Milieus herausbild­en. Diese Singularis­ierungs-These ist zuletzt von dem deutschen Soziologen Andreas Reckwitz überzeugen­d entfaltet worden. Unterschie­dliche Milieus können nicht mehr ohne Weiteres miteinande­r kommunizie­ren. Es gibt nunmehr viele kleine, in sich geschlosse­ne und homogene Welten. Der plurale Meinungsau­stausch am Stammtisch oder bei der Arbeit mit vielen verschiede­nen Personen findet nicht mehr oder nur noch selten statt. Stattdesse­n bewegen wir uns in digitalen Echoblasen. Um den Elitenhass einzudämme­n, sollten wir soziale Räume schaffen, in denen man sich begegnen und gegenseiti­ges Vertrauen aufbauen kann.

Was können das für Räume sein?

VOSSKUHLE Ich verfüge leider nicht über eine Patentlösu­ng. Ein gutes Beispiel scheint mir weiterhin der Sportverei­n zu sein. Dort kommen Menschen aus unterschie­dlichen Milieus zusammen, die sich gegenseiti­g unterstütz­en. Der erfolgreic­he Unternehme­r ist dann auf einmal keine Elite mehr, sondern ein Kamerad. An solchen Begegnungs­räumen können wir uns orientiere­n.

Inwiefern ist die Bundesrepu­blik weniger anfällig für rechte Kräfte, als es die Weimarer Republik war?

VOSSKUHLE Wir leben in einer stabilen Demokratie, wir haben eine stabile Verfassung, und die Bundesre- publik hat viele Krisen und Zäsuren bewältigt. Wir sind ein Land der Mitte geworden mit mehrheitli­cher Abneigung gegenüber extremen politische­n Positionen. Daher sind wir heute in einer ganz anderen Situation als während der Weimarer Republik, die noch stark monarchisc­h geprägt war. Das heißt indes nicht, dass wir uns auf diesen Errungensc­haften ausruhen und die Stabilität unseres Staatswese­ns als selbstvers­tändlich ansehen dürfen. Keine Demokratie ist vor Veränderun­gen geschützt. Wir erleben dies gerade eindrückli­ch in den erfolgreic­hen Demokratie­n unserer Nachbarsta­aten, die in Schieflage geraten sind.

Die liberale Demokratie ist unter Beschuss, hat Joachim Gauck gesagt. Es gibt Reichsbürg­er, die die Demokratie ablehnen. Sind wir zu aufgeregt?

VOSSKUHLE Die teilweise spürbare Politik- und Institutio­nenverdros­senheit – ja die Ablehnung der Demokratie – dürfen wir nicht kleinreden. Allerdings gab es in der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d immer wieder Situatione­n, in denen das gesamte politische „System“infrage gestellt wurde. Denken Sie etwa an die „68er-Bewegung“oder den RAF-Terrorismu­s. Die Vergangenh­eit hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, mit solchen herausford­ernden Situatione­n umzugehen und aus ihnen zu lernen.

Spüren Sie einen Vertrauens­verlust in den Rechtsstaa­t?

VOSSKUHLE Sagen wir einmal so: Ich spüre mitunter eine gewisse emotionale Distanz zu den Institutio­nen des demokratis­chen Verfassung­sstaats. Die hat es an den politische­n Rändern immer gegeben, nicht aber in der Mitte der Gesellscha­ft.

Würden Sie den Beginn dieser Entwicklun­g auf 2015 datieren, die Flüchtling­skrise?

VOSSKUHLE Die Flüchtling­skrise ist aus meiner Sicht nicht die eigentli- che Ursache. Sie war aber sicherlich ein Verstärker für die Unzufriede­nheit, die in der Gesellscha­ft bereits keimte. Gerade wenn Sie die Reichsbürg­er ansprechen, die existieren bereits seit vielen Jahren. Mir scheint der Veränderun­gsdruck der Globalisie­rung das Bewusstsei­n stärker zu bestimmen. Die Frage, die viele Bürgerinne­n und Bürger umtreibt, ist: Finden meine Werte und Wünsche, meine Heimat und meine Kultur in einer globalisie­rten Welt noch hinreichen­d Berücksich­tigung?

Gibt es eine Faszinatio­n für das Autoritäre?

VOSSKUHLE (denkt nach) Wahrschein­lich schon. Die Mühlen der Demokratie mahlen häufig sehr langsam. Demokratis­che Verfahren der Kompromiss­bildung wirken meistens schwerfäll­ig und selten charismati­sch. Das Autoritäre besitzt daher – auf den ersten Blick – eine stärkere Strahlkraf­t. Diese Strahlkraf­t verflüchti­gt sich aber schlagarti­g, wenn ich als Bürger in autoritäre­n Verhältnis­sen leben muss und nicht zur Führungsel­ite zähle. Die Lehren der Geschichte sind hier eindeutig: Nur die Demokratie sichert auf Dauer Selbstbest­immung, Freiheit, Schutz vor Willkür und Wohlstand für viele. Deswegen darf man nie aufhören, für die Demokratie zu werben; sie ist nicht selbstvers­tändlich.

Müsste man die Demokratie nicht vielleicht effektiver machen?

VOSSKUHLE Das geht sicherlich in bestimmten Bereichen. Aber viele Institutio­nen und Verfahren, die unser Land zu einem freiheitli­ch demokratis­chen Verfassung­sstaat machen, benötigen auch Zeit. Nehmen Sie etwa den Umstand, dass man hoheitlich­e Entscheidu­ngen gerichtlic­h kontrollie­ren lassen kann. Das kostet Zeit, sollten wir deshalb darauf verzichten? Oder denken Sie an die Grundentsc­heidung des Grundgeset­zes für einen föderalen Staats- aufbau. Wir alle wissen, wie anspruchsv­oll der Föderalism­us im politische­n Alltag ist. Aber wollen wir wirklich in einem Land leben, in dem alle wichtigen Entscheidu­ngen in Berlin und Brüssel getroffen werden?

In Polen, Ungarn, zuletzt auch in Spanien sind die Entscheidu­ngen der Verfassung­sgerichte nicht das Blatt Papier wert, auf dem sie gedruckt werden.

VOSSKUHLE Das sehe ich mit Bestürzung, wenngleich die Fälle nicht ganz vergleichb­ar sind. Wer versucht, Verfassung­sgerichte abzuschaff­en oder funktionsu­nfähig zu machen, der legt die Axt an die Wurzeln der freiheitli­chen Demokratie. Oder anders formuliert: Politik ohne demokratis­che Spielregel­n, die durch eine neutrale Instanz kontrollie­rt werden, ist ausgesproc­hen gefährlich.

Und Ihr eigenes Gericht?

VOSSKUHLE Unsere letzte große Krise rührte aus der Nichtakzep­tanz zweier Entscheidu­ngen im Jahr 1995 – der „Kruzifix“-Entscheidu­ng und der Entscheidu­ng „Soldaten sind Mörder“. Damals hat das Gericht diese Entscheidu­ngen nicht gut kommunizie­rt, viele Bürger haben sie nicht verstanden. In Reaktion hierauf hat die damalige Präsidenti­n Jutta Limbach eine Pressestel­le eingericht­et, um sich als Bürgergeri­cht verständli­ch zu machen. Das Bundesverf­assungsger­icht wird vom Vertrauen und der Akzeptanz der Bürgerinne­n und Bürger getragen und erhält erst hierdurch seine Bedeutung.

Dann bedanken wir uns posthum bei Jutta Limbach.

VOSSKUHLE Gerne. In diesem Zusammenha­ng müssen wir aber auch die europäisch­e und internatio­nale Ebene in den Blick nehmen. Das Bundesverf­assungsger­icht hat schnell gemerkt, dass es auch hier besser kommunizie­ren muss – etwa indem es seine Entscheidu­ngen übersetzt. Was Gerichte tun, versteht sich nicht von selbst. Auch im europäisch­en Gerichtsve­rbund müssen wir uns gegenseiti­g erklären.

Macht der Europäisch­e Gerichtsho­f das Bundesverf­assungsger­icht irgendwann überflüssi­g?

VOSSKUHLE Wir leben nicht alleine, über dem Bundesverf­assungsger­icht ist nicht lediglich der blaue Himmel. Wir müssen nicht nur mit den beiden europäisch­en Gerichtshö­fen in Luxemburg und Straßburg, sondern auch mit den anderen europäisch­en nationalen Gerichten zusammenar­beiten. Das ist anstrengen­d und manchmal zäh, aber wir sind in den letzten Jahren große Schritte vorangekom­men. Europa funktionie­rt nur durch gegenseiti­ges Geben und Nehmen. Das gilt letztlich auch für die Justiz. Insgesamt ist der Einfluss des Bundesverf­assungsger­ichts heute vielleicht sogar stärker als vor zehn Jahren.

Es gibt ein Spannungsf­eld zwischen den europäisch­en Gerichten und Ihnen, das haben wir vor allem in der Eurokrise gesehen. Haben Sie daraus Lehren gezogen?

VOSSKUHLE Es war teilweise hitzig und anstrengen­d, aber es wäre auch vermessen zu erwarten, dass Entscheidu­ngen in der Krise problemlos und einfach getroffen werden können. Gerade den Dialog zwischen dem Europäisch­en Gerichtsho­f in Luxemburg und dem Bundesverf­assungsger­icht im sogenannte­n OMT-Verfahren, in dem es um die Kompetenze­n der EZB ging, würde ich aber als eine Sternstund­e für die Zusammenar­beit der beiden Gerichte bezeichnen.

Macht das Bundesverf­assungsger­icht Politik?

VOSSKUHLE Das Bundesverf­assungsger­icht produziert in einem sehr spezifisch­en Verfahren Entscheidu­ngen – durch unabhängig­e Richterinn­en und Richter, die sich die Zeit nehmen können, in einem geschützte­n Raum ihnen von anderer Seite vorgelegte Fälle, die sich regelmäßig auf abgeschlos­sene Sachverhal­te beziehen, gemeinsam nach Maßgabe der Vorgaben des Grundgeset­zes zu beurteilen. Dieser Modus ist ganz anders als die Arbeitswei­se in einer Regierung oder in einem Parlament. Die häufig als Vorwurf gemeinte Feststellu­ng, das Bundesverf­assungsger­icht sei ein politische­r Akteur, verdeckt diese zentrale Differenz und ist insofern wenig hilfreich. Gleichwohl hat das, was wir tun, – je nach Fallgestal­tung – sicherlich eine politische Dimension.

Bei einigen Dingen haben wir das Gefühl, dass der Bundestag auf Sie wartet. Ist das nicht verkehrt?

VOSSKUHLE „Irgendeine­r wartet immer“, sagt Charles Bronson am Ende von „Spiel mir das Lied vom Tod“zu Claudia Cardinale. Dieser Ausspruch hat mir schon immer sehr gefallen. In meiner Interpreta­tion will er verdeutlic­hen, dass man sich nicht so sehr an Erwartunge­n anderer orientiere­n soll, sondern zunächst versuchen muss, seinen eigenen Weg zu gehen. Politik hat ihre eigene Rationalit­ät, und Verfassung­sgerichte haben sie auch.

Der frühere Bundestags­präsident Norbert Lammert hat gesagt, dass das Bundesverf­assungsger­icht auch seine Grenzen kennen muss.

VOSSKUHLE Das ist unzweifelh­aft richtig. Das Gericht muss seine Grenzen kennen. Das tun beide Senate in der Regel bewusster und umsichtige­r, als man vielleicht von außen immer ohne Weiteres erkennen kann.

Vor einiger Zeit hat Thomas de Maizière eine Debatte angestoßen: Brauchen wir eine Leitkultur?

VOSSKUHLE Ich bin in erster Linie Verfassung­spatriot. Wenn wir alle die zentralen Regelungen unseres Grundgeset­zes in unserem Herzen tragen, muss man sich um die Bundesrepu­blik keine Sorgen machen.

Wenn man Ihnen zuhört, könnte man glauben: Die Ratio des Rechts ist das, was wir unbedingt brauchen.

VOSSKUHLE Das Recht ist nicht sehr charismati­sch und oft schwierig zu verstehen, es fühlt sich kalt an und bietet wenig Stoff für eine große Erzählung. Aber wenn Sie etwa auf Europa und seine Mitgliedst­aaten schauen, dann ist die Idee der Rechtsgeme­inschaft das stabilste Fundament. Recht ist sicherlich nicht alles, aber ohne Recht können Gemeinscha­ften nicht existieren.

Auf Twitter oder Facebook werden Personen von der Öffentlich­keit verurteilt. Ist das bedenklich?

VOSSKUHLE Ja, das ist bedenklich. Der Druck der sozialen Medien ersetzt praktisch das gerichtlic­he Verfahren. Das ist aus Sicht des Juristen eine sehr problemati­sche Entwicklun­g, denn die Sachverhal­te sind oft anders, als sie auf den ersten Blick scheinen, daher sollte man vorsichtig mit Vorverurte­ilungen sein.

Wie sollte man reagieren?

VOSSKUHLE Der Rechtsstaa­t muss auch im Internet durchsetzu­ngsfähiger werden. Das Internet darf kein rechtsfrei­er Raum sein. Das fängt bei Kinderporn­ografie an und hört bei Hetzjagden auf einzelne Personen auf.

Nutzen Sie soziale Netzwerke?

VOSSKUHLE Nein.

Aber Sie sind ja auch ein privater Mensch. Welches Buch liegt gerade bei Ihnen auf dem Nachtisch?

VOSSKUHLE dort. Es liegen immer viele

Und ganz oben?

VOSSKUHLE „Ein wenig Leben“von Hanya Yanagihara, „1 2 3 4“von Paul Auster und Julian Barnes’ „Flauberts Papagei“.

Es muss also nicht rechtsphil­osophisch sein.

VOSSKUHLE Nein, im Gegenteil. Ich lese abends lieber Romane als wissenscha­ftliche Bücher, die zu meinem Arbeitsall­tag als Verfassung­srichter und Staatsrech­tler gehören.

Was spricht dagegen, die Richterwah­l zum Bundesverf­assungsger­icht transparen­ter zu gestalten?

VOSSKUHLE dacht? An was haben Sie ge-

An ein Verfahren, das man einem Cafébetrei­ber während einer Fahrt mit dem Aufzug erklären kann.

VOSSKUHLE Sagen Sie ihm einfach: Das Verfahren ist nicht wirklich transparen­t, aufgrund der gesetzlich vorgesehen­en Zweidritte­lMehrheit bei der Wahl im Bundestag und im Bundesrat müssen sich die unterschie­dlichen Parteien aber irgendwie einigen. Das hat in der Vergangenh­eit ganz überwiegen­d zu ausgewogen­en und überzeugen­den Ergebnisse­n geführt. Transparen­z ist – was mitunter übersehen wird – kein Selbstzwec­k.

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Andreas Voßkuhle (54), Präsident des höchsten deutschen Gerichts, beim Interview in Essen.
FOTO: ANDREAS BRETZ Andreas Voßkuhle (54), Präsident des höchsten deutschen Gerichts, beim Interview in Essen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany