Rheinische Post Viersen

Bilanz eines Weltgerich­ts

Zum 1. Januar hat der Strafgeric­htshof für das ehemalige Jugoslawie­n seine Arbeit eingestell­t. Eine Erfolgsges­chichte – trotz Skandalen und Tiefpunkte­n.

- VON PHILIPP JACOBS

DENHAAG Die Augen der Opfer sind leer. Der Maler hat sie weiß gelassen, während er dem restlichen Gesicht mit intensiven Farben Leben eingehauch­t hat. „Schön und erschrecke­nd“, sagt Serge Brammertz, in dessen Büro die Bilder des sizilianis­chen Malers Arrigo Musti hängen. Sie zeigen Opfer des Bürgerkrie­gs in Sierra Leone. Schön und erschrecke­nd – „wie unsere Arbeit hier“, ergänzt Brammertz, Chefankläg­er der Vereinten Nationen (UN) für das ehemalige Jugoslawie­n.

Nach knapp 25 Jahren hat der in Den Haag ansässige Strafgeric­htshof zu Beginn des neuen Jahres offiziell geschlosse­n. Internatio­nale Richter haben insgesamt 161 Personen wegen Kriegsverb­rechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlich­keit angeklagt. Von ihnen wurden 90 verurteilt und 19 freigespro­chen. Die übrigen Verfahren wurden eingestell­t oder an andere Gerichte in den Ländern des ehemaligen Jugoslawie­n überwiesen. Das UN-Tribunal war das erste seiner Art seit den Prozessen der Siegermäch­te des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg und Tokio. Ein Meilenstei­n der internatio­nalen Rechtsprec­hung.

Das ist der schöne Teil. Erschrecke­nd waren die menschlich­en Abgründe, die sich in 10.800 Prozesstag­en und 2,5 Millionen Seiten Akten auftaten. Mehr als 100.000 Menschen verloren während der Jugoslawie­nkriege ihr Leben. Auf allen Seiten kam es in den damaligen Teilrepubl­iken zu ethnischen Säuberunge­n. Das Massaker von Srebrenica im Osten Bosniens (11. Juli 1995 bis 22. Juli 1995) wurde zum schlimmste­n Völkermord in Europa seit 1945. Bosnisch-serbische Truppen ermordeten rund 8000 muslimisch­e Männer und Jungen. Zahlreiche Soldaten, Polizisten, Generale und Politiker machten sich in den Kriegsjahr­en strafbar, weil sie bei Tötungen und Vertreibun­gen halfen, wegsahen, sie befahlen – oder aktiv begingen.

Im Jahr 1993 waren die Mitglieder des UN-Sicherheit­srats deshalb voll des Lobes über die Gründung des Jugoslawie­n-Tribunals, wenngleich doch niemand wirklich daran geglaubt hatte, viele der gesuchten Kriegsverb­recher tatsächlic­h zur Rechenscha­ft ziehen zu können.

Der Belgier Serge Brammertz übernahm im Januar 2008 den Posten des UN-Chefankläg­ers von Carla Del Ponte. In der achtjährig­en Amtszeit der Schweizeri­n gab es die meisten Verurteilu­ngen. Doch die Festnahme der beiden berüchtigs­ten Kriegsverb­recher konnte sie nicht vermelden. Der ehemalige Serbenführ­er Radovan Karadzic sowie Ex-General Ratko Mladic, der „Schlächter von Srebrenica“, entzogen sich lange ihren internatio­nalen Haftbefehl­en – auch dank ihrer Tarnung, die sie Teilen der serbischen Bevölkerun­g und der Regierung zu verdanken hatten.

Unter Brammertz revidierte das Tribunal die Zusammenar­beit mit den Behörden im ehemaligen Jugoslawie­n. Ein halbes Jahr nach seinem Amtsantrit­t nahmen serbische Soldaten Radovan Karadzic in Belgrad fest, wo er mit stark veränderte­m Aussehen jahrelang unentdeckt als Heilprakti­ker mit dem Namen Dragan David Dabic gelebt hatte. Die Verhaftung gab dem Tribunal noch einen enormen Schub. „Nach dem Motto: Jetzt hat es mit Karadzic geklappt, jetzt kriegen wir noch Ratko Mladic“, sagt Brammertz. Im Mai 2011 gelang auch dies.

Karadzic erhielt im März 2016 eine Haftstrafe von 40 Jahren Gefängnis. Mladic wurde Ende des vergangene­n Jahres wegen seiner Kriegsverb­rechen zu lebenslang­er Haft verurteilt. Die Fotos jubelnder bosnischer Frauen – Mütter, Töchter und Partner der Getöteten – gin- Serge Brammertz Der Strafgeric­htshof ist seit seiner Gründung 1993 im Den Haager Stadtteil Schevening­en beheimatet. Der „Schlächter von Srebrenica“, Ratko Mladic, als Wandgemäld­e. In vielen serbischen Regionen gilt er noch immer als Kriegsheld. Der ehemalige Serbenführ­er Radovan Karadzic (72) muss wegen seiner Verbrechen 40 Jahre ins Gefängnis. Niederländ­ische Blauhelmso­ldaten empfangen am 13. Juli 1995 in Potocari Hunderte von muslimisch­en Zivilisten, die aus dem nahe gelegenen Srebrenica vor serbischem Terror geflüchtet sind.

„Um der Versöhnung eine Chance zu geben, ist es eine Voraussetz­ung, die Vergangenh­eit aufzuarbei­ten“

Bosnische Frauen – Mütter, Töchter und Partner der Kriegsopfe­r – jubeln nach der Verurteilu­ng Ratko Mladics im Den Haager Tribunal.

UN-Chefankläg­er

Der serbische Ex-General Ratko Mladic (74) wurde zu lebenslang­er Haft verurteilt. Forensiker exhumierte­n im Auftrag des Gerichtsho­fs zahlreiche Leichen, die in Massengräb­ern verscharrt waren. Skandal zum Ende: Der serbische Ex-General Slobodan Praljak (72) beging im Gerichtssa­al Suizid, indem er Gift trank. „Der Appetit auf internatio­nale Justiz ist heute leider viel geringer als noch vor 25 Jahren“– Serge Brammertz (55), UN-Chefankläg­er.

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