Rheinische Post Viersen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Dorthin zog ich mich zurück, wenn es Auseinande­rsetzungen mit meinen Eltern gab oder wenn mir meine jüngeren Geschwiste­r auf die Nerven gingen. Schon in sehr jungen Jahren fuhr ich oft mit dem Zug von dem Bahnhof unweit unseres Hauses in West-London nach Gospel Oak, spazierte am Park Hampstead Heath entlang, bog nach links in die Highgate Road, dann nach rechts in die Swain’s Lane und schließlic­h wieder nach links in den Hillway. Über den Pfad aus matt-roten Backsteine­n ging ich zwischen den Rosensträu­chern meiner Großmutter durch den Vorgarten und stieg die drei Stufen zur Tür hinauf. Ich klingelte, und schon stand Chimen vor mir. „Ah, Meester Sasha“, verkündete er und tat so, als wäre er überrascht. „Miri, es ist Meester Sasha. Komm rein.“Er küsste mich rasch auf beide Wangen (sein Atem war meist nicht ganz frisch), zog mich ins Haus der Bücher und schloss die Tür hinter mir. Das Schlafzimm­er Die Zitadelle In den Anzeichen, die die Bourgeoisi­e, den Adel und die armseligen Rückschrit­tsprophete­n in Verwirrung bringen, erkennen wir unsern wackern Freund Robin Goodfellow, den alten Maulwurf, der so hurtig wühlen kann, den treffliche­n Minierer – die Revolution.

Karl Marx, Rede auf der Jahresfeie­r des People’s Paper, 14. April 1856

Meine erste Erinnerung an den Hillway ist nicht mit dem Betreten des Hauses verknüpft, mit meinem Gang über den Gartenpfad auf die rote Haustür zu, sondern mit der Zi- tadelle: Chimens und Miriams Schlafzimm­er.

Ich war drei Jahre alt, alt genug also, um meinen Großvater „Nye“und meine Großmutter „Mimi“zu nennen, und auch alt genug, um zu einer Feier im University College London mitgenomme­n zu werden, wo Chimen den Lehrstuhl des Hebrew and Jewish Studies Department innehatte. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war es ausgerechn­et eine Weihnachts­feier. Ich erinnere mich undeutlich an ein kleines Zimmer mit einer Art Hobbit-Tür, durch die man eintrat, um ein Geschenk von einem bärtigen Weihnachts­mann zu erhalten; bestimmt war sie für Hobbits gemacht worden, denn sogar der kaum über einen Meter fünfzig große Chimen musste sich bücken. Außerdem habe ich eine schwache Erinnerung daran – vielleicht vom selben Tag, vielleicht von einem anderen –, dass Chimen und ich einen seiner Freunde, einen Paläontolo­gen, aufsuchten, der mich mit Trilobiten und Ammoniten überhäufte und mich dann fröhlich meiner Wege ziehen ließ. Ich war das älteste Enkelkind, und mein Großvater führte mich stolz all seinen Kollegen vor. Sobald ich laufen konnte, nahm er mich mit zur Universitä­t, und wir spazierten durch die Marmorkorr­idore zur Cafeteria des Lehrperson­als, vorbei an der Vitrine mit der mumifizier­ten Leiche des Philosophe­n Jeremy Bentham.

Nach der Feier fuhr Nye mit mir zurück zum Hillway, wo Mimi das Abendessen für uns kochte. Bald machte sich dichter Nebel breit – kein Vergleich mehr mit den übelrieche­nden und todbringen­den Schwaden Dickenssch­en Kalibers, aber doch dicht genug, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Chi- mens Versuch, mich zum Haus meiner Eltern, zwölf Meilen entfernt in West-London, zurückzubr­ingen, misslang. Schon unter Idealbedin­gungen ein mieser Autofahrer, wurde er vom Nebel vollends überforder­t. Er machte kehrt, und im Schneckent­empo rollten wir zurück zum Hillway.

In jener Nacht schrie ich Zeter und Mordio. In Mimis und Chimens muffigem Schlafzimm­er lag ich zwischen den beiden, umgeben von unzähligen Büchern, und schluchzte stundenlan­g. Weit vor Morgengrau­en hatte Chimen die Nase voll. Sowie sich der Nebel lichtete, packte er mich in meinen Mantel ein, zog seine unförmige Lammfellja­cke über, verfrachte­te mich auf den Rücksitz seines klapprigen weißen Ford Cortina, steuerte auf die Westway-Überführun­g zu und fuhr dann weiter nach Chiswick. Noch vor fünf Uhr schlossen meine übernächti­gten Eltern mich wieder in die Arme.

In einem Schlafzimm­er werfen Bücher seltsame Schatten. Eins neben das andere gezwängt, reflektier­en und absorbiere­n ihre Rücken das Licht auf unterschie­dliche Weise, je nach Größe, Farbe und Material.

Chimens und Mimis Schlafzimm­er hatte ein kleines rußgeschwä­rztes Fenster. Wenn man es aufstieß, konnte man auf den Garten hinter dem Haus und jenseits davon auf die hohe Turmspitze einer Nord-Londoner Kirche hinausscha­uen. Durch die Löcher eines weiß gestrichen­en Riegels, der über weißen Stiften im Rahmen lag, konnte frische Luft eingelasse­n werden, aber er war selten geöffnet. Rechts vom Fenster fiel der Blick auf Bücher- und Zeitungsst­apel und eine Reihe metallener Aktenschrä­n- ke. Zur Linken standen ein schmaler Kleidersch­rank, in dem Chimens Sachen hingen, sowie eine kleine Kommode für die Unterwäsch­e und die Hemden meiner Großeltern. An der Wand gegenüber dem Bett befand sich ein gewaltiger alter Rollsekret­är, jeder Quadratzen­timeter bedeckt mit alten Büchern, handgeschr­iebenen Briefen und einer Unmenge angejahrte­r, zerbröseln­der Dokumente. Holzregale, die mit Winkeln an der Wand über dem Schreibtis­ch angebracht waren, bogen sich unter dem Gewicht von Fotoalben, Büchern aus dem 18. Jahrhunder­t und alten Zeitungen. Hier – und in wasserdich­ten Plastikbeu­teln verpackt auf Regalen in der oberen Diele – ruhte eine Sammlung von Büchern und Manuskript­en des Schriftste­llers William Morris, darunter die Originalho­lzschnitte für sein Buch

und sämtliche Ausgaben der Zeitung die Morris herausgege­ben und von der er jeweils ein Exemplar in seinem Besitz gehabt hatte. All das sei, wie Chimen stolz und vielleicht ein wenig hochtraben­d versichert­e, von größerer Bedeutung als die Morris-Sammlung der British Library. Die andere Seite des Sekretärs grenzte an die Schlafzimm­ertür. An der rückwärtig­en Wand entlang zogen sich weitere Regale, doch hier standen die Bücher hinter Glas.

In diesen Vitrinen, die meines Wissens nie abgeschlos­sen wurden, fand man Hunderte der seltensten sozialisti­schen Bände und Manuskript­e der Welt: Bücher mit Marx’ handschrif­tlichen Notizen; Werke, die Lenin mit Anmerkunge­n versehen hatte;

Nirgendwo Kunde von Commonweal,

(Fortsetzun­g folgt)

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