Das Haus der 20.000 Bücher
Ein Laie hätte den Druckfehler nicht bemerkt. Für Chimen jedoch war er so wichtig wie ein Briefmarkenfehldruck für einen Philatelisten. In seiner Korrespondenz prahlte er, dass er sich „das seltenste Pamphlet von Marx in englischer Sprache“beschafft habe. Er trauerte regelrecht, als er auf einer Auktion für einen von Marx’ Briefen um 20 Pfund überboten wurde. Mit Sraffa wetteiferte er um die besondere Ehre, wertvolle Einzelstücke aus Marx’ Besitz zu erstehen. „Ich habe eine umfangreiche Bestellung bei Douglas in Edinborough aufgegeben, doch bin ich bei keinem Objekt zum Zuge gekommen“, schrieb er seinem Freund Anfang April 1966 in einer kurzen Notiz. „Vermutlich haben Sie sie ergattert.“
Erst Jahre später richtete Chimen sein Augenmerk darauf, die Bücher im Hillway zu katalogisieren. Obwohl er viele der weltweit bedeutendsten Judaica-Sammlungen für Sotheby’s systematisch erfasst und sogar einen Katalog der Kataloge zusammengestellt hatte, den er Buchwissenschaftskollegen manchmal zeigte, weigerte er sich hartnäckig, die Aufgabe abzuschließen. „Es nimmt den Zauber, denn man hat keine echte Sammlung mehr vor sich, sondern ein Objekt, das man verkaufen will. Sobald ein Buch katalogisiert ist, weicht beinah das Leben aus ihm“, so deutet Edwards diesen Widerwillen. Chimen ließ sich nur zu gern von potenziellen Käufern hofieren und genoss es, in Restaurants und Clubs eingeladen zu werden, etwa in den Garrick Club im Londoner Zentrum, wo Händler ihm schmeichelten, indem sie sich über den Wert seiner Bibliothek ausließen. Aber wenn es hart
[sic!]
auf hart kam, wollte er nicht zugeben, dass seine Sammlung, sein Lebensprojekt, komplett war, abgesehen von ein paar fehlenden Stücken (er beklagte die Tatsache, dass er keine Originale der von Marx herausgegebenen
besaß, die im Revolutionsjahr 1848 und auch noch 1849 in Köln erschienen war). Sogar als sein Versicherungsagent Will Burns ihn wiederholt in Briefen aufforderte, einen Katalog seiner Bibliothek anzufertigen, ersann Chimen eine Ausrede nach der anderen. Er habe zu viel zu tun; er sei auf Reisen; er sei krank; er werde sich im folgenden Monat darum kümmern. „Ich hatte gehofft, es während der Sommerferien zu erledigen“, teilte er Burns Ende Oktober 1981 mit, „aber da Miriam in Israel leider einen Unfall hatte, bin ich nicht dazu gekommen. Ich hoffe, gegen Ende Januar damit fertig zu werden.“Das war allerdings nicht der Fall, und Burns schickte ihm noch ein paar Mahnungen, bevor er schließlich resignierte. Die Sammlung war weiterhin nur als Teil des Hausrats versichert. Wäre das Haus der Bücher von einer Katastrophe ereilt worden und niedergebrannt, hätte Chimen zu seinem Entsetzen festgestellt, dass sein Versäumnis, einen Katalog zu erstellen, sehr kostspielige Folgen gehabt hätte.
Immerhin hinterließ er eine Reihe von Notizen, aus denen hervorging, wie er manche seiner seltensten Kostbarkeiten erworben hatte. So schilderte er zum Beispiel, wie es ihm Anfang der fünfziger Jahre gelungen war, sich William Morris’ Sammlung des der Zeitung der Socialist League, zu beschaffen. Dazu gehörte auch besagte hölzerne Kassette: Sie hatte einen Deckel aus blauem Kunstleder und
Zeitung Neuen Rheinischen Commonweal,
war mit einem weißen, filzartigen Stoff ausgekleidet. Morris hatte sie eigenhändig für eine aus dem Jahr 1539 angefertigt und schließlich seine Exemplare der Revolutionszeitung darin verwahrt. Diese Blätter – sie wurden in Doppelspalten ab 1885 zunächst monatlich und dann wöchentlich bis 1895 gedruckt und mit den revolutionären Gedankenspielen von Morris selbst sowie von Marx’ Tochter Eleanor und anderen radikalen Koryphäen der spätviktorianischen Jahre gefüllt – waren von Morris auf seinen engen Freund, den Schriftsetzer Emery Walker, übergegangen, von Walker auf dessen Tochter und von ihr auf einen Dichter namens Norman Hidden. Chimen kaufte sie Hidden schließlich für 50 Pfund ab. Und über ein halbes Jahrhundert lang blieben sie in ihrer Bibelkassette ganz oben auf einem Holzregal in der oberen Diele des Hillway 5.
Große Bibel
Diese Zeitungen gehörten zu Chimens wertvollsten Besitztümern. Zerknittert und angebräunt, beschworen sie Bilder der kultivierten, Tee trinkenden Revolutionäre herauf, aus denen sich Morris’ Clique zusammensetzte. Ich stelle mir vor, dass Chimen sich in gewisser Weise in ihren Artikeln wiedererkannte. In dem Manifest auf der Titelseite der ersten Ausgabe des die im Februar 1885 für einen Penny verkauft wurde – das Manifest trug die Unterschrift der dreiundzwanzig Gründer der Socialist League –, stand die schlichte Botschaft: „Wir treten als Gruppe vor Sie hin, welche die Prinzipien des Revolutionären Internationalen Sozialismus befürwortet; das heißt, wir streben einen Wandel an der Basis der Gesellschaft an – einen Wandel, der die Unterschiede zwischen Klassen und
Commonweal,
Nationalitäten aufheben soll.“In der Ausgabe vom 1. Mai des Folgejahres, als der wöchentliche Erscheinungsrhythmus angekündigt wurde, schrieben Morris und sein Freund Ernest Bax im Leitartikel: „Wir sind nur wenige, wie es allen, die Prinzipien verfechten, beschieden ist, bis die unvermeidliche Notwendigkeit die Welt zwingt, sich zu jenen Prinzipien zu bekennen. Wir sind nur wenige, und wir müssen unsere eigene Arbeit verrichten, zu der niemand außer uns fähig ist. Jedes Atom an Intelligenz und Energie, das wir mitbringen, wird für diese Arbeit erforderlich sein.“
In seinen Lehrveranstaltungen – in Oxford in den frühen sechziger Jahren; an der Sussex University, wo er 1967 eine monumentale Vorlesungsreihe hielt, um des fünfzigsten Jahrestags der bolschewistischen Revolution in Russland zu gedenken; sowie an zahlreichen anderen Universitäten und in Clubs, die ihn in späteren Jahren einluden – entführte Chimen seine Zuhörer ins 19. und frühe 20. Jahrhundert, in die Zeit der großen Umwälzungen in Europa. Von den Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Schriften Nikolai Gogols und Alexander Herzens sowie des Anarchisten und Terroristen Michail Bakunin – Angehörigen des laut Isaiah Berlin „denkwürdigen Jahrzehnts“– schlug er einen Bogen über die Revolutionäre des späteren 19. Jahrhunderts wie den Frühmarxisten Georgi Plechanow bis ins 20. Jahrhundert zum Leben und Werk Wladimir Lenins.