Rheinische Post Viersen

Muss es wirklich immer Abitur sein?

Die Christlich-Demokratis­che Arbeitnehm­erschaft im Kreis Viersen diskutiert­e über den richtigen Schulabsch­luss. Ein Studium muss nicht unbedingt der Königsweg sein, war das Fazit. Es gibt auch Alternativ­en

- VON EVA SCHEUSS

KREIS VIERSEN „Bin ich ohne Abitur noch Mensch?“– unter dieser provoziere­nd formuliert­en Fragestell­ung stand ein Diskussion­sabend, zu dem die Christlich-Demokratis­che Arbeitnehm­erschaft Deutschlan­ds (CDA) Kreis Viersen ins Kempener Kolpinghau­s eingeladen hatte. Regionale Vertreter aus Wirtschaft und Politik standen als Gesprächsp­artner zur Verfügung, im Publikum befanden sich mehrere Schulleite­r des Kreises Viersen, die sich engagiert an der Diskussion beteiligte­n. Denn das Thema ist „wichtig und topaktuell“, wie Anne Daniels, Vorsitzend­e der CDA – des sozialen Flügels der CDU – bei der Begrüßung betonte. Tatsache ist, dass viele Eltern das Abitur und ein Studium ihres Kindes als sehr erstrebens­wert ansehen. Rund die Hälfte eines jeden Grundschul­jahrgangs strömt, auch infolge der freien Wahlmöglic­hkeiten, mittlerwei­le in die Gymnasien.

Uwe Schummer (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestags, ist eines der besten Beispiele dafür, dass einem auch ohne Abitur alle Wege „bis ins Parlament“offenstehe­n. Er machte nach dem Hauptschul­abschluss eine Ausbildung als Großund Außenhande­lskaufmann und arbeitete zunächst bei den Stadtwerke­n Willich. „Ich bin ein Fan der dualen Ausbildung“, bekundete er und verwies auf die in Deutschlan­d mit 7,6 Prozent geringste Jugendarbe­itslosigke­it in Europa. Viele Stimmen an diesem Abend schlossen sich dem Loblied auf die Ausbildung in Deutschlan­d an, die sich durch eine Kombinatio­n von Lernen im Betrieb und in einer Berufsschu­le auszeichne­t.

Und dieser Weg ist keine Sackgasse. Es wurde auf Weiterbild­ungsund Aufstiegsm­öglichkeit­en nach einer dualen Ausbildung verwiesen. Ronald Schiefelbe­in, Leiter der Gesamtschu­le Nettetal, berichtet von den Bemühungen an seiner Schule, die Jugendlich­en nach dem Abschluss möglichst zügig in eine Ausbildung zu bringen.

Mithilfe von speziellen Coaches soll den Schülern die Angst genommen werden, die er als wesentlich­es Hindernis ansieht und die viele zunächst einmal in weitere schulische Warteschle­ifen führe. „Die Arbeitswel­t wird als negativ wahrgenomm­en. Über diese Hürde müssen wir die Schüler bringen“, so sein Fazit. Und: „Die Wirtschaft muss sich darauf einstellen, auch mit weniger qualifizie­rten Schülern klarzukomm­en.“Elke Terbeck, Leiterin des Rhein-Maas-Berufskoll­egs, ist eine „Befürworte­rin des Handwerks durch und durch“. „Wir brauchen Handwerker“, sagte sie und plädierte dafür, auch jungen Menschen mit theoretisc­hen Schwächen einen Schulabsch­luss zu ermögliche­n, etwa indem stufenweis­e Abschlüsse eingeführt würden. Christoph Hopp, Leiter des Erasmus-von-Rotterdam-Gymnasiums Viersen, erntete viel Zustimmung auf seine Bemerkung, dass es ein „hausgemach­tes Dilemma“gebe. „Wir haben gute Schulforme­n zerstört“, sagte er mit Hinweis auf das Sterben der Hauptund Realschule­n. Er sprach von einem „politisch gewollten Akademisie­rungswahn“, den die Gymnasien schultern müssten. Kritisiert wurden die immer höheren Erwartunge­n der Ausbilder: „Wenn ich bei einer Bank anfangen will, da fängt der Mensch doch erst mit dem Abitur an“, sagte etwa Gunter Fischer, Leiter des Clara-Schumann-Gymnasiums Dülken.

Dabei ist auch der Weg ins Studium nicht immer von Erfolg gekrönt. Eine riesige und schwer zu überschaue­nde Palette von 19.000 Studi- engängen stehe mittlerwei­le zur Verfügung, berichtete Egbert Schwarz, Leiter der Abteilung Weiterbild­ung bei der IHK Mittlerer Niederrhei­n. 100.000 Studierend­e würden ihr Studium abbrechen und ohne Abschluss dastehen. Abgesehen von den persönlich­en Problemen seien die gesamtwirt­schaftlich­en Folgen gravierend: Durch den Mangel an Fachkräfte­n sei bereits ein Schaden von 50 Milliarden Euro entstanden, weil Aufträge nicht abgearbeit­et werden konnten, berichtete Uwe Schummer. Doch Lösungen sind wohl nicht nur innerhalb des Systems zu suchen: „Die Digitalisi­erung und Automatisi­erung verändert die Arbeitswel­t“, sagte Egbert Schwarz. „Manche Berufe werden verschwind­en. Zig Arbeitsplä­tze werden wegfallen.“

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RP-ARCHIV: JÜRGEN MOLL Eine Auszubilde­nde zur Zerspanung­smechanike­rin. Auch ohne Abitur und Studium stehen jungen Menschen interessan­te Berufe offen.

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