Das Haus der 20.000 Bücher
Der Kampf der Titanen zwischen Marx und Bakunin in den 1860er und 1870er Jahren (bereits 1848, als ganz Europa am Rande einer Revolution stand, hatte Marx Bakunin in einer Publikation bezichtigt, ein zaristischer Agent Provocateur zu sein) um die Vorherrschaft in der Ersten Internationale nahm in Chimens Vorlesungen Gestalt an. Man konnte sich lebhaft ausmalen, wie die beiden Väter der Revolution vor Wut schäumten, wie sie Speichel über ihre üppigen Bärte sprühten und wie sie die Hände an ihre breiten Stirnen schlugen, bevor sie die politisch erwachten Arbeiter Europas mit klugen Schachzügen für sich zu gewinnen versuchten. Das ungewöhnliche Drama des russischen Positionswechsels zum revolutionären Denken wurde ebenfalls lebendig: Russland, einstiger Leitstern der Reaktion, der große Bär, der die 1848er-Revolutionen Mitteleuropas erstickt hatte, und ein Land, das nach der leidenschaftlichen Überzeugung der Umstürzler Europas zur Strecke gebracht werden musste, bevor eine Revolution auf breiter Front möglich war, wandelte sich zum Vorreiter für eine internationale revolutionäre Bewegung. „Um Puschkin zu zitieren“, erklärte Chimen den Studenten der Sussex University 1967, als der Sommer der Liebe sich seinem Ende zuneigte, und versuchte, seinen russischen Akzent zu glätten, der dadurch fast niederländisch klang, „Russland wartete auf einen Funken, der die Flamme entzündete.“Er sprach überdeutlich, abgehackt; wenn ich mir die Aufzeichnungen nach all den Jahrzehnten anhöre, wird mir klar, wie verzweifelt er sich bemüh- te, nicht zu schnell zu sprechen und jede Silbe korrekt zu artikulieren.
In Chimens Bibliothek lagerten im Verborgenen die großen Dramen des Generationen währenden revolutionären Kampfes. In diesem verschwiegenen Vorstadthaus entrollte sich eine Serie von Szenen: von russischen Dorfgemeinschaften und Revolutionskomitees bis hin zu den behäbigeren Darstellungen viktorianischer Radikaler in England. Da war zum Beispiel ein purpurnes Büchlein, überraschend schwer für seine Größe, mit dem Titel
The Revolution and Siege of Paris, With the Elections and Entry of the Prussians, in
1870–71. Der Autor nannte sich schlicht „Ein Augenzeuge“(wurde später jedoch als Percival J. Brine, Fellow am King’s College, Cambridge, identifiziert). Über die preußische Besatzung nach dem Deutsch-Französischen Krieg schrieb Brine: „Die Straßen wirkten nur allzu freudlos. Die Befestigungen in den Stadtteilen, die man den Preußen zugewiesen hatte, waren verwaist. Die Häuser, Läden, Cafés waren Tag und Nacht hermetisch verschlossen, keine Seele an den Fenstern, auch für Geld und gute Worte gab es nichts zu kaufen; [Paris] glich einer pestverseuchten Stadt, die die Menschen verlassen hatten.“
Oder nehmen wir das kleine Buch mit dem mattroten Einband, das einen Regalplatz in der Nähe belegte. Der goldgeprägte Titel lautete
1871. Es enthielt einen minutiösen Augenzeugenbericht des längst vergessenen viktorianischen Methodistenpfarrers William Gibson über den Aufstand, durch den Paris im turbulenten Frühjahr 1871 nach der französischen Niederlage für ein paar Wochen in die Hände eines Arbeiter-
During the Commune, Paris
Revolutionskomitees gelangte, bevor er brutal von der Armee niedergeschlagen wurde. „Heute (Samstag)“, meldete er in einem seiner Briefe an den
Watchman and Wesleyan Advertiser,
die in diesem Band zusammengestellt waren, „herrscht mächtige Aufregung in Paris. Da ich heute Morgen um 6 Uhr Anlass hatte, den Nordbahnhof aufzusuchen, hörte ich die Nationalgarden in allen Richtungen zum Sammeln getrommelt und begriff, dass sich etwas zusammenbraute.“Gibson schilderte nüchtern, dass Leichen auf den Straßen gelegen hätten und dass die Verwundeten von ihren Genossen fortgeschleppt worden seien. „23 Uhr“, heißt es in dem Brief abschließend, „wir hören Kanonendonner, hoffen aber trotzdem, in Frieden schlafen zu können.“
Fast so wichtig wie die Worte war, wie sich die Bücher anfühlten und wie sie rochen. Wenn man die dicken Seiten alter Texte zwischen schweren, rissigen Pappdeckeln oder in Pergamenteinbänden oder auch die zerbröselnden, schuppigen Seiten anderer Werke umblätterte, konnte man nachempfinden, was Marx verspürt haben mochte, wenn er im Lesesaal des Britischen Museums bei den Recherchen für seine großen Abhandlungen einen solchen Band in den Händen hielt. In den süßlichen Düften, die freigesetzt werden, wenn man ein altes Buch aufschlägt, ließen sich die Spuren verloren gegangener Drucktechniken und Papierfabrikationen oder jahrhundertealter Tinten erschnüffeln. An dem in Pergament gebundenen Autorenmanuskript von Morris’ dessen handgeschöpfte, dicke cremefarbene Seiten zum Vorschein kamen, wenn man das goldene Bändchen löste, ließ sich die Kunst-
[sic!] Kunde von Nirgendwo,
fertigkeit der Holzschnittillustrationen erkennen. Dieses Buch, dessen Handlung in einer utopischen, postrevolutionären Zukunft im Jahre 2102 spielt, sollte nicht nur den Verstand, sondern auch die Sinne ansprechen. Es enthält die detaillierte Beschreibung einer Gesellschaft nach Jahren des gewaltsamen Umbruchs und der Revolution, in welcher der Staat, wie Marx und Engels prophezeit hatten, auf märchenhafte Art „verdorrt“ist, einer Welt, in der „die Menschen im Einklang mit ihren eigenen Fähigkeiten leben und handeln“.
In dieser Zukunft spielen Geld und Privateigentum keine Rolle mehr. Die Menschen arbeiten nicht, weil sie es müssen, sondern wegen der Genugtuung, Vorzügliches zu leisten. Gleichgesinnte Arbeiter schließen sich freiwillig nicht in Fabriken, sondern in „Vereinigten Werkstätten“zusammen. Es gibt keine Schulen, doch jedermann lernt unablässig. Gefängnisse sind abgeschafft und nur noch Teil einer blassen Erinnerung an barbarische und glücklicherweise längst vergangene Tage. Standesamtlich geschlossene Ehen – und damit auch Scheidungen – gehören ebenso der finsteren Vergangenheit an. Was möglicherweise am wichtigsten ist: Da alle in Harmonie leben, sind Politik und Gesetzgebung überflüssig, ebenso wie die alte Farce, dass gewählte Volksvertreter einerseits „Schaden von den Interessen der Oberschicht abwenden“und andererseits „das Volk zu der Illusion verleiten, es sei an der Abwicklung seiner Angelegenheiten beteiligt“.