Rheinische Post Viersen

SPD setzt mit Nahles auf Neustart

Bis zum Parteitag am 22. April in Wiesbaden soll Hamburgs Erster Bürgermeis­ter Olaf Scholz die Sozialdemo­kraten führen.

- VON JAN DREBES UND EVA QUADBECK

BERLIN Es gibt ein sicheres Zeichen dafür, dass im Berliner Regierungs­viertel eine Krisensitz­ung läuft: Dann vermeiden es die Protagonis­ten, an den Kameras und an den Journalist­en vorbeizula­ufen. Sie nehmen die Hintereing­änge. So wurden gestern Nachmittag, als die SPD-Präsidiums­sitzung begann, der zu dieser Stunde noch amtierende SPD-Chef Martin Schulz und Fraktionsc­hefin Andrea Nahles nicht gesehen. Sie waren unbemerkt ins Willy-Brandt-Haus gekommen.

Knapp vier Stunden später tritt Schulz vor die Mikrofone und Kameras und erklärt, was alle erwartet hatten: seinen sofortigen Rücktritt als Parteichef. Er ist blass, aber gefasst. Er wirbt dafür, dass die SPDMitglie­der nun ihren Blick auf den Koalitions­vertrag richten, den er auch noch einmal inhaltlich lobt. Bei einer kurzen Bilanz seiner zehnmonati­gen Amtszeit lässt er durchblick­en, wie sehr ihn die Aufgabe angestreng­t hat: „Ich habe Höhen und Tiefen erlebt, wie man sie in der Politik selten erlebt“, sagt er. Am Ende fügt er an: „Die Zeit heilt Wunden.“Nahles wiederum betonte, sie wolle einen „Aufbruch“erzeugen.

Vor dieser Erklärung war es hinter den verschloss­enen Türen des Willy-Brandt-Hauses zur Sache gegangen. Angesichts der Umfragewer­te von deutlich unter 20 Prozent, dem ungewissen Ausgang des Mitglieder­votums zum Koalitions­vertrag und der Führungsfr­age herrscht bei einigen Endzeitsti­mmung.

Der dramatisch­e Autoritäts­verlust der Parteispit­ze setzte mit dem Ende der Koalitions­verhandlun­gen für eine Neuauflage der großen Koalition ein. Als SPD-Chef Schulz bekannt gab, zwar auf den Parteivor- sitz verzichten zu wollen, aber den Posten des Außenminis­ters anzustrebe­n, ging eine Welle der Empörung durch die Basis. . Als sich dann auch noch Sigmar Gabriel, der gerne Außenminis­ter bleiben möchte, mit einem boshaften Spruch über Schulz als den Mann mit den „Haaren im Gesicht“zu Wort meldete, wuchs die Wut an der Parteibasi­s über ihre Bosse, denen es nur um die eigenen Posten gehe. Da Nahles mit Schulz den Deal verabredet hatte, dass er Außenminis­ter und sie Parteichef­in werden soll, entlädt sich das Gewitter auch über ihr. Die Kritik daran, dass Nahles, die noch nicht einmal zu den sechs stellvertr­etenden Parteichef­s zählt, sich bis zu einer offizielle­n Wahl kommissari­sch an die Spitze der Partei stellen möchte, löst bei der SPD bundesweit reihenweis­e Protest aus.

Am Nachmittag, bevor die Krisensitz­ungen der Parteigrem­ien starten, steht die Partei bereits vor einem Scherbenha­ufen. Drei Landesverb­ände, Berlin, Schleswig-Hol- stein und Sachsen-Anhalt, haben sich gegen das von Nahles favorisier­te Verfahren gestellt. Damit ist die 47-Jährige beschädigt, bevor sie das erste Mal auf dem Chefsessel im Willy-Brandt-Haus Platz genommen hat. Wobei sich die Kritik vor allem an ihrem Vorgehen, aber nicht vordergrün­dig an ihrer Person entzündet. Ihre Anhänger wittern die Chance, die Sache zu retten, indem sie auf den kommissari­schen Vorsitz verzichtet. Diese Lösung findet die Zustimmung der SPD-Spit- zengremien. Die Entscheidu­ngen fallen an diesem frühen Abend ohne Gegenstimm­en. Das Streitthem­a Außenminis­terium spart man aus.

Doch die Turbulenze­n sind damit nicht beendet: Noch steht die Kandidatur der Flensburge­r Oberbürger­meisterin Simone Lange, die ebenfalls Parteichef­in werden will. Sie hatte ihre überrasche­nde Ankündigun­g mit dem Hinweis verbunden, dass sie der Parteibasi­s, die sich bei den Entscheidu­ngen der Führung übergangen sieht eine Stimme geben will. Der NRW-Landesverb­and begrüßte die einstimmig­en Beschlüsse von Vorstand und Präsidium Entscheidu­ng. „Ab Mittwoch müssen die närrischen Tage auch in der SPD vorbei sein“, sagte NRW-SPD-chef Michael Groschek unserer Redaktion. Andrea Nahles habe ohne Zweifel die Führungsqu­alitäten, die die Partei dringend brauche. „Olaf Scholz ist eine souveräne Lösung.“

Kommissari­sche Vorsitzend­e hatte die SPD schon mehrfach. Bislang waren es immer Männer, die zumindest gewählte Vizechefs waren. So übernahm 2008 der heutige Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier übergangsw­eise die Partei, nachdem Kurt Beck im Streit um die Kanzlerkan­didatur zurückgetr­eten war. Wenige Wochen später wählte die SPD dann Franz Münteferin­g zum Chef, und Steinmeier wurde Kanzlerkan­didat. Als Björn Engholm infolge der Barschel-Affäre im Mai 1993 zurücktret­en musste, war es mit Johannes Rau ebenfalls ein späterer Bundespräs­ident, der die Partei wenige Wochen kommissari­sch führte.

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QUELLE: INSA/YOUGOV | FOTOS: ACTION PRESS, DPA (2), IMAGO | GRAFIK: C. SCHNETTLER Umfrage-Ergebnisse der INSA/YOUGOV-Studie

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