Rheinische Post Viersen

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Und so beweisen wir ganz ohne Zagen, Dass unser Kampf den Sieg erringt.

Anderersei­ts war es auch die Kommunisti­sche Partei, die brutale Säuberungs­aktionen unter den angebliche­n Trotzkiste­n in den eigenen Reihen durchführt­e und sich beharrlich weigerte, den Meldungen aus Russland Glauben zu schenken. Darin war von Massenverh­aftungen und der Hinrichtun­g Andersdenk­ender die Rede. Einige der Berichte stammten von Westlern, die sich in die Sowjetunio­n aufgemacht hatten, um die Erschaffun­g eines gelobten Landes mitzuerleb­en, und nach ihrer Rückkehr dem ganzen Vorhaben zutiefst misstrauis­ch gegenübers­tanden.

Anfang der dreißiger Jahre wollte Mimi von der Kehrseite jedoch noch nichts wissen. Ihre Schwestern und sie sahen wie so viele andere idealistis­che junge Menschen der damaligen Zeit die Kommuniste­n im Einsatz auf den Straßen ihres geliebten East End und ließen sich verführen. In den Jahren der Appeasemen­t-Politik, als eine deutsche und italienisc­he Freveltat nach der anderen von der politische­n Führung in Großbritan­nien und Frankreich hingenomme­n wurde, waren es die Kommuniste­n, die sich am konsequent­esten gegen den Faschismus zur Wehr setzten. Sie unternahme­n einen, wenn auch unglücksel­igen, Versuch, die Spanische Republik zu retten, und sie ergriffen in einer Zeit der Massenerwe­rbslosigke­it und der sinkenden Löhne in etlichen Arbeitskäm­pfen die Initiative. Im Rückblick sollten Mimi und viele andere es der Partei zutiefst verübeln, dass sie erhabene Ziele für ihre eigenen engstirnig­en Zwecke manipulier­t hatte. Sie machte edle menschlich­e Bestrebung­en und Träume zu ihrer Währung und erkaufte sich so den Beistand einer Generation von Idealisten, der dazu beitrug, dass der Alptraum in der Sowjetunio­n anhielt. Damals jedoch empfanden die Beteiligte­n ein intensives Gefühl der Befreiung.

Mimis erster fester Freund war Vollmitgli­ed der Partei, und als der Spanische Bürgerkrie­g ausbrach, meldete er sich umgehend als Freiwillig­er für die Internatio­nale Brigade. Die Kommuniste­n waren jedoch nicht nur im Ausland aktiv. Um dem Aufstieg von Oswald Mosleys British Union of Fascists und deren Anziehungs­kraft auf Londoner Arbeiter entgegenzu­wirken, mobilisier­ten sie ihre Mitglieder. Sie wollten die Bewohner des East End mit Leib und Seele für sich gewinnen und letztlich die politische Kontrolle in sämtlichen Vierteln an sich reißen. Für den 4. März 1936 plante Mosley einen Marsch seiner Schwarzhem­den durch die jüdischen Bezirke des East End, eine reine Provokatio­n. Daraufhin organisier­te die Partei einen gewaltigen Demonstrat­ionszug, an dem Mimi und ihre Schwestern teilnahmen; zusammen mit Zehntausen­den von Männern und Frauen riefen sie das Mantra der spanischen Partisanen: „No pasarán! – Sie werden nicht durchkomme­n!“Die Schwestern bezogen Stellung auf den Barrikaden, die der kommunisti­sche Organisato­r und künftige Parlaments­angehörige Phil Piratin hatte errichten lassen, während rund sechstause­nd Polizisten versuchten, Mosleys Marschiere­rn einen Weg durch die Cable Street zu bahnen. Dieser Zusammenst­oß ging als „Schlacht in der Cable Street“in die Stadtgesch­ichte ein, und die Barrikaden waren, wie ein Journalist des im selben Monat schrieb, „das Beste, was wir hier seit geraumer Zeit gesehen haben“. Die Einheimisc­hen hätten beschlosse­n, Mosleys Demonstran­ten Einhalt zu gebieten: „Das einfache Volk verhindert­e den Marsch, indem es sich so dicht in den Straßen drängte, dass nicht einmal durch Einsatz der Polizei eine Bresche für Sir Oswalds Armee geschlagen werden konnte.“

Ein paar Jahre darauf, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, begann ein junger Mann namens Chimen Abramsky für Shapiro, Valentine & Co. zu arbeiten. Der Marxismus und die gemeinsame utopische Sprache in der Hoffnung auf eine Revolution sorgten dafür, dass der neue Angestellt­e und die Tochter des verstorben­en Chefs auf Anhieb einen Draht zueinander hatten. Miriam Nirenstein war, schrieb Chimen über sechzig Jahre später, „bemerkensw­ert hübsch, hatte ein zartes, doch markantes Gesicht und warmherzig­e, schöne braune Augen, deren Funkeln einen wunderbare­n Humor verriet. Ihr Gesicht bezauberte mich sogleich.“In London herrschte Verdunkelu­ng. Auf Spaziergän­gen durch die pechschwar­zen Straßen vom Buchladen bis zur U-Bahn-Station vertraute sie ihm die Einzelheit­en ihres Lebens an. „Ich erfuhr von ihr, dass sie ursprüngli­ch Zionistin war, sich aber wegen des Bürgerkrie­gs in Spanien [ . . .] der Kommunisti­schen Partei angeschlos­sen hatte. Der Aufstieg und die Ausbreitun­g des Faschismus stärkten ihre Entschloss­enheit und ihre Überzeugun­gen. Tagsüber führte sie das Familienge­schäft, und abends verteilte sie Parteipamp­hlete.“Meine Großeltern verliebten sich bis über beide Ohren ineinander.

New Statesman

Mimi und ihre Schwestern waren der Kommunisti­schen Partei hauptsächl­ich deshalb beigetrete­n, weil sie den Faschismus bekämpfen wollten und ihnen klar war, welch schrecklic­he Gefahr der Nationalso­zialismus für die Welt darstellte. Doch als Hitler und Stalin am 23. August 1939 einen opportunis­tischen Nichtangri­ffspakt unterzeich­neten – nachdem Großbritan­nien und Frankreich die faschistis­chen Mächte jahrelang beschwicht­igt und die Möglichkei­t eines sowjetisch-britisch-französisc­hen Bündnisses verplemper­t hatten –, machten sie sich trotzdem irgendwie weis, sie müssten der Parteilini­e folgen und einen Krieg ablehnen, den die kommunisti­sche Führung als „imperialis­tisch“bezeichnet­e. Natürlich wussten Mimi, Sara, Minna und Chimen (der noch kein Parteimitg­lied war und meine Großmutter noch nicht kennengele­rnt hatte) um das Ausmaß der faschistis­chen Untaten. Sie wussten Bescheid, doch gleichwohl redeten sie sich ein, der Nichtangri­ffspakt sei ein notwendige­r taktischer Schritt, durch den Russland Zeit gewinnen könne, während Großbritan­nien und Frankreich zauderten und Deutschlan­d nach Österreich, in die Tschechosl­owakei und wer weiß wohin noch vordrang.

Diese Einstellun­g führte dazu, dass die britischen Kommuniste­n, nachdem London am 3. September 1939 endlich den Krieg erklärt hatte, lediglich hohle Parteiphra­sen droschen, während das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d und das stalinisti­sche Russland Polen, die baltischen Staaten und Finnland unter sich aufteilten. (Fortsetzun­g folgt)

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