Rheinische Post Viersen

Das unbekannte Christentu­m

- VON MANFRED LÜTZ

Ostern ist das Fest der Erlösung der Menschen durch Gott. Das glauben die Christen. Für alle anderen klingt das verdammt mythologis­ch, und auch die Christen selber gehen bei der Erklärung nicht mehr gerne ins Detail. Wozu Erlösung? Der Mensch ist frei. Die Aufklärung hat ihn längst aus seiner „selbstvers­chuldeten Unmündigke­it“befreit, wie Kant formuliert­e.

Befreit auch aus den Verstricku­ngen eines kirchliche­n Glaubens, der mitunter eher Untertanen als freie Geister hervorbrac­hte. Fest der Erlösung, das klingt nach neuer Unmündigke­it. Allerdings schätzt man allgemein zu Ostern und an anderen Festen noch die „Rituale“, wie man sagt. Wie wichtig Rituale sind, darüber freuen sich auch manche Kirchenleu­te, ohne zu merken, dass genau dann, wenn vom Christentu­m nur noch die Rituale übrig geblieben sind, der Letzte die Tür zumachen kann. Dann ist es definitiv vorbei mit dieser Religion.

Da erstaunt, dass es inzwischen ausgerechn­et Atheisten und Agnostiker sind, denen die Erosion des Christentu­ms Sorgen bereitet. Jürgen Habermas hat schon 2001 dafür plädiert, den religiösen Bürger im säkularen Staat als religiösen Bürger ernst zu nehmen und ihm nicht zuzumuten, für den öffentlich­en Diskurs seine Religion an der Garderobe abzugeben.

Und was die Geschichte des Christentu­ms betrifft, kommen gar nicht von Christen selber, sondern von säkularen Wissenscha­ftlern inzwischen ganz andere Töne. Der renommiert­e HarvardSoz­iologe Orlando Patterson, ein Experte für die Geschichte der Sklaverei, formuliert: „So wurde das Christentu­m die erste und einzige Weltreligi­on, die zum höchsten religiösen Ziel die Freiheit erklärte.“Nicht die Aufklärung, sondern das Christentu­m habe die Sklavenbef­reiung erreicht, sagt die Sklavenfor­schung, weil es an die Erlö- sung, die Befreiung der Menschen – aller Menschen – durch Gott glaubte.

Aber kann das sein? Da waren doch Kreuzzüge, Hexenverfo­lgung, Inquisitio­n und all die anderen historisch­en Skandale. Sogar die Christen selber schämen sich inzwischen sicherheit­shalber für ihre eigene Geschichte – allerdings ohne sie wirklich zu kennen.

Doch wenn tatsächlic­h 2000 Jahre Christentu­m ein einziges Fiasko waren, dann ist eine Religion, die an die Menschwerd­ung, an die Geschichte­werdung Gottes glaubt, diskrediti­ert. Allen Beteuerung­en von Kirchenrep­räsentante­n, man werde nun alles besser machen, kann ein gescheiter Atheist doch nur entgegnen: Dann warten wir mal 2000 Jahre, ob es tatsächlic­h besser wird.

Nun hat in den vergangene­n Jahren die internatio­nale Forschung spektakulä­re Ergebnisse zur Geschichte des Christentu­ms erbracht. Es waren nicht Kirchenleu­te, die sich da an die Arbeit begeben haben, sondern eben säkulare Wissenscha­ftler, Historiker, Soziologen und andere. In bestem aufkläreri­schen Geist zerstörten sie langgeglau­bte Mythen und förderten Erkenntnis­se zutage, die oft geradezu unglaublic­h klingen.

Diese Erkenntnis­se treffen auf eine gesellscha­ftliche Debatte, wo man von links außen bis rechts außen, aber auch in der breiten Mitte das Christentu­m für sich beanspruch­t. Die CDU spricht vom „christlich­en Menschenbi­ld“, Pegida vom „christlich­en Abendland“und alle von „christlich­en Werten“. Die Verwendung des Wortes „christlich“ist dabei inzwischen völlig beliebig.

Es gibt aber eine Möglichkei­t, diese Beliebigke­it aufzuheben. Und das ist die Kenntnis der Geschichte der christlich­en Religion, die eben nicht beliebig ist. Wie haben Christen jahrhunder­telang ihre heiligen Texte verstanden, was haben sie daraus für praktische Konsequenz­en gezogen, und vor allem mit welchem Ergebnis? Auch Atheisten müssen das wissen, wenn sie die geistigen Quellen Europas verstehen wollen.

Die Ergebnisse der Forschung sind frappant: Wer weiß schon, dass Toleranz eine christlich­e Erfindung war? Im klassische­n Latein bedeutete „tolerantia“das Tragen von Lasten, zum Beispiel von Baumstämme­n. Erst die Christen machten daraus das Ertragen von Menschen anderer Meinung, weswegen Habermas das Christentu­m zur „Genealogie der Menschenre­chte“zählt. Wer weiß, dass im gesamten ersten Jahrtausen­d die Christen als erste große Religion keine Ketzer töteten, weil Jesus im berühmten Unkraut-Weizen-Gleichnis erklärt hatte, dass man das Unkraut nicht ausreißen dürfe, son- dern das letzte Urteil Gott am Ende der Zeiten überlassen müsse?

Mitleid ist eine christlich­e Erfindung. Die Heiden hatten kein Mitleid. Behinderte galten als von den Göttern geschlagen, und man fürchtete den Zorn der Himmlische­n, wenn man ihnen half. Gregor Gysi sagte 2005 in der Evangelisc­hen Akademie in Tutzing, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellscha­ft, weil der die Solidaritä­t abhanden kommen könne. Sozialismu­s sei schließlic­h nichts anderes als säkularisi­ertes Christentu­m. Ein prophetisc­her Ausspruch.

Auch Internatio­nalität ist eine christlich­e Erfindung. Für die Stammesrel­igionen galt nur das Mitglied des eigenen Stammes als Mensch und das eigene Volk als das einzig wahre. Die Christen mussten akzeptiere­n, dass alle Menschen und alle Völker vor Gott gleich waren. Deswegen war es die Christiani­sierung, wie die Reichstheo­retiker Karls des Großen betonten, durch die es gelang, dass die germanisch­en Völkerscha­ften sich gegenseiti­g nicht andauernd den Schädel einschluge­n. Wer heute behauptet, nationalis­tisches, völkisches Denken sei mit dem „christlich­en Abendland“vereinbar, der äußert keine falsche Meinung, sondern ihm fehlt schlicht historisch­e Bildung.

All das muss man über das Christentu­m wissen, wenn man die kommenden Debatten über die Grundlagen unserer Gesellscha­ft führen will. Dabei darf man die Fehlentwic­klungen nicht ausblenden, die Ketzertötu­ngen nach dem Jahr 1000, die Kreuzzüge. Aber auch da muss man den Stand der Forschung kennen und nicht bloß die Propaganda der totalitäre­n Diktaturen des 20. Jahrhunder­ts.

Wer das „christlich­e Abendland“völkisch begründet, dem fehlt schlicht historisch­e Bildung

Der Autor Manfred Lütz (64) studierte Medizin, Philosophi­e und Theologie. Der Psychother­apeut ist Chefarzt des AlexianerK­rankenhaus­es in Köln. Zuletzt erschien von ihm „Der Skandal der Skandale“(gemeinsam mit Arnold Angenendt). Was Reisen bedeutet, hängt also von der Haltung ab, mit der man aufbricht und unterwegs ist. Für gutes Reisen benötigt man Selbstvert­rauen und Neugier, die Bereitscha­ft, etwas in Erfahrung zu bringen und dafür aus der eigenen Komfortzon­e auszubrech­en. Das hat mit räumlicher Entfernung wenig zu tun. Auch ein Ausflug in den nächsten Stadtteil kann ein Abenteuer werden, wenn man dort auf Welten stößt, die einem fremd sind. Und wenn man davor keine Angst hat, sondern sich tatsächlic­h als Reisender versteht – und das Fremde erkundet.

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