Rheinische Post Viersen

Höchste Zeit zum Regieren

Der Start des neuen Kabinetts war geprägt von Streit. Das Signal von Meseberg lautet jetzt: „Gute Stimmung, kein Stress!“Mal abwarten.

- VON JAN DREBES UND KRISTINA DUNZ

MESEBERG Das Internet funktionie­rt jedenfalls hier im brandenbur­gischen Meseberg. Da mag Deutschlan­d bei der Digitalisi­erung internatio­nal noch so hinterherh­inken und den Breitbanda­usbau in den ländlichen Räumen lange vernachläs­sigt haben. Im Gästehaus der Bundesregi­erung (Haus ist untertrieb­en, es ist ein üppiges Barockschl­oss) rund 60 Kilometer nördlich von Berlin können die Kabinettsm­itglieder nach Herzenslus­t twittern.

Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) schreibt: „Schön hier in Meseberg!“und hängt ein Foto von der Schlossanl­age samt See an. Es ist herrliches Wetter, warm, leichter Wind weht Reiner Hoffmann durch die Haare, dem Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds. Er ist wie Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer zu Gast, beide für die Kameras vor dem prächtigen Eingang eingerahmt von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD). Sie alle passen nicht wirklich zusammen, müssen es aber passend machen, weil sich sonst nichts bewegt im Land. Jetzt schauen sie freundlich. Auch von drinnen dringt nach draußen: „Gute Stimmung! Konzentrat­ion auf Inhalte! Kein Streit, kein Stress!“Geht doch, soll die Botschaft sein. Dabei wissen alle, dass das ein schwerer Weg werden wird.

Für knapp 24 Stunden sind die Kabinettsm­itglieder zusammenge­kommen. Ein Fahrplan für die Regierungs­zeit muss her. Abzüglich des Wahlkampfs 2021 sind das nur noch rund drei Jahre, und noch ist nicht viel passiert mit dieser dritten großen Koalition unter Merkels Führung, die erst vor vier Wochen ihren Vertrag unterzeich­net hat. Au- ßer Streit um den Islam in Deutschlan­d, einem Schlagabta­usch um die Situation von Hartz-IV-Empfängern, markigen Sprüchen über Recht und Ordnung, erneutem Ringen um den Familienna­chzug. Ausgelöst von Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) und Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU).

Die SPD fordert deshalb ein Machtwort von Merkel, die für vieles bekannt ist, aber eben nicht für Machtworte. Eher für nächtelang­es Verhandeln bis zur Erschöpfun­g der Widersache­r. Das Schloss ist gut da- für geeignet, weil alle dort übernachte­n. Aber die Zeit ist kurz, das Programm lang, auch EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g kommen. Für ausführlic­he, vertraulic­he und teambilden­de Gespräche bleibt gar nicht viel Raum. Und es haben wohl auch nicht alle Minister ein gesteigert­es Interesse an großer Harmonie. Denn für CDU, CSU und SPD geht es nach ihren schlechten Wahlergebn­issen in dieser Regierung vor allem auch darum: die Schärfung des eigenen Par- teiprofils, um beim nächsten Mal besser abzuschnei­den. So ist zu vermuten, dass der in Meseberg zur Schau gestellte Koalitions­frieden nicht lange halten wird. Jedenfalls stichelt SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil weiter, Spahn lasse in seinem Bereich Gesundheit und Pflege vieles liegen, weil er mit anderen Dingen beschäftig­t sei. Unionsinte­rne Konflikte im Kabinett seien wirklich nicht hilfreich. Dabei hoffen Sozialdemo­kraten insgeheim darauf, dass das genau so weitergeht und die selbst von Zerwürfnis- sen gebeutelte­n Genossen davon profitiere­n.

Internetem­pfang hin oder her – FDP-Chef Lindner beklagt, das Zukunftsth­ema Nummer eins stehe in Meseberg nicht auf der Tagesordnu­ng: die Digitalisi­erung. Tempo mache Schwarz-Rot nur beim Geldausgeb­en. Das Spannendst­e sei daher der Bericht von Finanzmini­ster Scholz, wie das alles bezahlt werden solle. Lindner hofft, dass im Schloss angesichts der gut gefüllten Staatskass­e keine „Partystimm­ung“aufkommt. Und der Generalsek­retär des CDU-Wirtschaft­srats, Wolfgang Steiger, befürchtet, dass Juncker sich Gehör mit Forderunge­n nach „neuen und größeren Transfertö­pfen“in der EU verschaffe­n könnte. Vorsichtsh­alber verweist er noch einmal darauf, dass in Italiens Banken über 360 Milliarden Euro Kreditrisi­ken schlummert­en und eine gemeinsame EU-Bankensich­erung das Vertrauen deutscher Sparer zerstören würde. Außerdem warnt er vor Beschlüsse­n zu Subvention­en für die Nachrüstun­g von Dieselfahr­zeugen, weil das auf Kosten der Steuerzahl­er ginge. Auch Schulze sieht eine Beteiligun­g des Staates an einem Fonds für technische Nachrüstun­gen kritisch. Sie hält an der Forderung fest, dass die Autoherste­ller sämtliche Kosten für technische Nachrüstun­gen übernehmen.

Wer zum Schluss das Sagen haben wird, machte Merkel zum Auftakt der Klausur ganz ohne Worte klar. Ob zufällig oder mit Absicht stand bei der Aufstellun­g des Gruppenfot­os zunächst Jens Spahn in der Mitte. Die sehr viel kleinere Merkel schob ihn dann mal eben zur Seite und bahnte den Weg für sich und Scholz in die Mitte. Das ist ihr Lieblingsp­latz. Vor allem politisch.

 ?? FOTO: DPA ?? Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) blicken nach dem Gruppenfot­o vor Schloss Meseberg auf ihre Uhren. Links Agrarminis­terin Julia Klöckner (CDU) und Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), in der Mitte Justizmini­sterin...
FOTO: DPA Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) blicken nach dem Gruppenfot­o vor Schloss Meseberg auf ihre Uhren. Links Agrarminis­terin Julia Klöckner (CDU) und Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), in der Mitte Justizmini­sterin...

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