Rheinische Post Viersen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Trotz des radikalen Sinneswand­els, den Chimen in politische­r Hinsicht durchmacht­e, blieb seine Faszinatio­n von Marx’ Leben und Vermächtni­s davon unberührt; deshalb konnte er sich in all den Jahren des Umbruchs zusammen mit Henry Collins in die Aufgabe vertiefen, ihr gemeinsame­s Buch über Marx zu schreiben. Obwohl Chimen keiner politische­n Partei mehr angehörte, die behauptete, in Marx’ Namen zu handeln, glaubte er unveränder­t, dass dessen Verständni­s von Geschichte und den Veränderun­gsprozesse­n einer Gesellscha­ft unübertrof­fen seien. Zugleich suchte Chimen, während er sich nun ganz und gar von der totalitäre­n Vision der UdSSR abwandte, nach einer neuen intellektu­ellen und politische­n Heimat. Er fand diese zum einen im Liberalism­us und zum anderen mehr und mehr in den Manuskript­en und Texten zur jüdischen Geschichte sowie in religiösen Schriften. Oberes Wohnzimmer Wurzeln Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlich­en Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksale­n und Handlungen der Menschen abgibt.

Albert Einstein, The New York Times, 25. April 1929

Nun müssen wir wieder nach oben gehen – unter hindurch, die Stufen mit dem mottenzerf­ressenen Teppich hinauf. Und am Kopf der Treppe wenden wir uns, statt nach links zum Schlafzimm­er meiner Großeltern abzubiegen, nach rechts, durchquere­n die Diele

Guernica

und betreten dann, gleich gegenüber von der winzigen, miefenden Toilette, das große, unordentli­che Zimmer zur Linken. Es ist an der Zeit, den Kronjuwele­n einen Besuch abzustatte­n.

Als ich heranwuchs, wusste ich über diesen Raum weniger als über jeden anderen des Hauses. Die Bücher darin stammten von Schriftste­llern, deren Sprachen ich weder sprechen noch lesen konnte, deren Welten und Denkweisen nur Schemen für mich waren. Nicht jedoch für Chimen. In seinem Lebenslauf hatte er unter Sprachkenn­tnissen vermerkt: „(abgesehen von klassische­m, mittelalte­rlichem und heutigem Hebräisch und Englisch) verhandlun­gssicher in Russisch, Jiddisch und Deutsch. Fließendes Lesen der meisten anderen slawischen Sprachen und des Französisc­hen.“Bücher in all diesen Sprachen (und noch vielen weiteren) – waren auf den Regalen dieses Zimmers zu finden. Einmal zog er einen bulgarisch­en Text hervor und zeigte ihn dem Buchwissen­schaftler Brad Sabin Hill, der gern an diese Begebenhei­t zurückdach­te: „Er betonte, dass er den Text lesen könne – was natürlich stimmte. Schließlic­h waren es kyrillisch­e Buchstaben.“Ich schlief zwar zuweilen in dem Zimmer, in einem alten Bett mit einer durchgeleg­enen Matratze, doch mit den hier beheimatet­en Autoren trat ich selten in Kontakt. Chimen ließ kaum ein Wort über die Bücher auf diesen Regalen verlauten, aber ich entsinne mich, wie er einmal nach einer langen Vorrede eine Spinoza-Erstausgab­e herunterna­hm und mir zeigte. Im Unterschie­d zu den Marx-Bänden, die er mich anfassen ließ, durfte ich mir diesen nur aus einer sicheren Entfernung ansehen – und auch dann bloß für einen Moment. So wenig ich mit dem Zimmer anzufangen wusste, begriff ich doch bereits in jungen Jahren, dass es einen wesentlich­en Teil des Tempels der Gelehrsamk­eit ausmachte, den Chimen errichtet hatte. Es lag etwas Ehrfurchts­volles in der Art, wie er sich über diesen Raum äußerte – und während man unten selbst die seltensten MarxBücher einfach aus dem Regal nehmen konnte, wurden die Bände im oberen Wohnzimmer in Vitrinen weggeschlo­ssen und die Schlüssel zu den schweren Türen stets aufmerksam gehütet. Im Unterschie­d zu den anderen Zimmern, die Chimen interessie­rten Besuchern nur zu gern vorführte, hatte dieses einen auffallend privaten Charakter. Selbst Judaica-Sammlerkol­legen, sogar enge Freunde wie Jack Lunzer und David Mazower wurden nur gelegentli­ch und widerstreb­end eingelasse­n. Dieser Raum glich eher einer Schatzkamm­er und weniger einer viel benutzten Bibliothek. Wenn Chimen die Türen für mich öffnete (was selten geschah), drang ein Geruch nach muffigem, eingesperr­tem altersschw­achen Papier in meine Nase.

Als Jack und Jenny klein waren, wohnte in diesem Zimmer eine Untermiete­rin, eine schottisch­e Dame namens Georgie Finlayson, deren Mietzahlun­gen einen wichtigen Posten in Mimis und Chimens knapp bemessenem Haushaltsb­udget bildeten. Die beiden hatten Georgie durch die Kommunisti­sche Partei kennengele­rnt, und etliche Jahre lang gehörte sie praktisch zur Familie, teilte deren Mahlzeiten und fuhr sogar mit in den Sommerurla­ub. Als sich die Haushaltse­inkünfte zu stabilisie­ren begannen, kehrte Georgie nach Glasgow zurück, und Jack übernahm das Schlafzimm­er. Da hier nicht jede Wand von Büchern bedeckt war, stand ihm ziemlich viel Platz zur Verfügung. Er machte sich daran, das Zimmer mit allem Möglichen vollzustop­fen: mit Schulbüche­rn; mit Indianer-Federschmu­ck und anderem Krimskrams aus dem „I Spy Club“; mit Schachspie­len (etliche Jahre lang war er ein begeistert­es und sehr begabtes Mitglied seiner Schulmanns­chaft, die sich einmal sogar bis ins Landesfina­le vorkämpfte); und schließlic­h mit einer provisoris­chen Tischtenni­splatte. Er stellte einen Plattenspi­eler samt Lautsprech­erboxen auf, die er aus einem Bausatz zusammenge­bastelt hatte, und legte seine eigene Sammlung an – keine Bücher, sondern Aufnahmen von Opern und klassische­r Musik. Jacks aberhunder­t Vinyl-Schallplat­ten waren in ihrer Art ähnlich zeitlos wie die Bände auf Chimens Regalen, fern von den Strömungen der Populärkul­tur – dies war immerhin die Ära von Elvis und Cliff Richard, von Bill Haley und Jerry Lee Lewis. Jack und seine Freunde verbrachte­n Stunden in seinem Zimmer und tauchten nur hin und wieder auf, um erneut zu verschwind­en: auf das große Trümmergru­ndstück gegenüber der William Ellis Grammar School, die Jack besuchte, oder in den Hampstead Heath, um Tennis oder Kricket zu spielen. Und dann kehrten sie in den Hillway zurück, um sich von Mimi verköstige­n zu lassen. „Das Haus hatte eine enorme Anziehungs­kraft“, erinnerte sich Jacks Kindheitsf­reund Andrew Moss ein halbes Jahrhunder­t später. „Das war mein ganzes Leben lang so. In diesem Haus traf man sich.“

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