Rheinische Post Viersen

Ein Kassenbuch erzählt die Geschichte von St. Martin

Im St.-Martinsver­ein Sassenfeld wird seit 1903 Buch geführt. Die Einträge zeigen, wie Familien im Ort lebten — und unterstrei­chen die historisch­e Bedeutung des Festes für Ort und Verein

- VON JULIA ZUEW

LOBBERICH Auf einem Schimmel reitet St. Martin zum Bettler, um seinen Mantel zu teilen – das Schlüsselb­ild des St.-Martinsfes­tes steht seit Jahrhunder­ten für die Tradition des Teilens. Im Herbst vergangene­n Jahres reichten rund 70 Martinsver­eine, auch der aus Sassenfeld, beim Ministeriu­m für Kultur und Wissenscha­ft NRW die Bewerbung ein, die Rheinische Martinstra­dition als immateriel­les Kulturerbe anzuerkenn­en. In den nächsten Wochen soll sich eine Kommission mit der Bewerbung befassen. „Wir hoffen, dass dem Antrag stattgegeb­en wird“, sagt Georg Wegmann, der sich im St.-Martinsver­ein Sassenfeld mit der Öffentlich­keitsarbei­t befasst. Im Verein, der rund 20 aktive Mitglieder fasst, laufen die Vorbereitu­ngen für den Zug in diesem Jahr bereits. „Nach St. Martin ist vor St. Martin“, sagt Wegmann. Dieses Jahr organisier­t der Verein den 115. Martinszug im Sassenfeld – ein Jubiläum für den Verein.

Umgerechne­t nur 220 Euro – so viel kostete der erste dokumentie­rte St.-Martinszug im Sassenfeld. „Im Jahre 1903 betrugen die Gesamtausg­aben für die Durchführu­ng des Umzuges 40,50 Reichsmark“, sagt Wegmann. Eine Reichsmark entspricht in etwa 5,50 Euro. „Heute kostet ein Umzug mehrere Tausend Euro“, sagt Wegmann. Festgehalt­en sind die Zahlen aus Vorkriegsz­eiten in zwei Büchern – in ziervoller, altdeutsch­er Handschrif­t.

Im Schutz der jeweiligen Schriftfüh­rer des Vereins haben die Bücher – eins davon ein akribisch geführtes Kassenbuch, das andere ein Protokollb­uch der Züge – die Jahrzehnte unversehrt überdauert. „Es ist erstaunlic­h, dass die Bücher in der Kriegszeit nicht verloren gegangen sind“, sagt Wegmann. Sie seien von historisch­er Bedeutung. „Unser St.- Martinsver­ein hat eine einzigarti­ge Dokumentat­ion des St.-Martinsfes­tes seit Beginn der ersten Versammlun­g der damaligen Feuerwehrk­ompanie am 5. September 1903“, sagt Edgar Herrmann, Vorsitzend­er des Sassenfeld­er Martinsver­eins. Handschrif­tlich ist in den Büchern festgehalt­en, wie der Martinszug durch das Sassenfeld verläuft. „Dieser Martinszug findet bis zum heutigen Tage statt, nur mit dem Unterschie­d, dass zur damaligen Zeit zum Beispiel Kurfürsten mit von der Partie waren und heute Menschen wie Sie und ich“, betont Herrmann. Aus den notierten Teilnehmer­zahlen im Buch lasse sich außerdem schließen, wie die Menschen im Dorf gelebt haben könnten. „Es gab in den Zügen früher deutlich mehr Kinder als heute – im Schnitt hatte jede Familie zwei Kinder“, sagt Wegmann. „Heute laufen, grob geschätzt, zwei- bis dreimal mehr Erwachsene als Kinder im Zug mit.“Im Kassenbuch hingegen sind Spenden und Ausgaben festgehalt­en. „Daraus lässt sich schließen, wie viel Geld die Menschen zur Verfügung hatten.“Und: „Es ist bis heute üblich, Äpfel oder ein paar Nüsse in die Martinstüt­en zu tun“, sagt Wegmann. „Das war früher genauso.“

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RP-FOTOS (2): JÖRG KNAPPE Georg Wegmann (links) und der heutige Hüter der Bücher, Vereins-Schriftfüh­rer Heinz Schmitz.
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In feiner altdeutsch­er Handschrif­t sind die Umzüge seit 1903 beschriebe­n. Heute werden die Züge am Computer dokumentie­rt.

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