Rheinische Post Viersen

Unter Genossen

Die Bundestags­wahl vergeigt, die Groko abgelehnt, der Groko zugestimmt — für SPD-Mitglieder waren die vergangene­n Monate eine Achterbahn­fahrt. Wie geht’s denen jetzt? Ein Besuch im Ortsverein

- VON MARTIN RÖSE

VIERSEN „Ich fühle mich viel besser...“, sagt der Ortsverein­svorsitzen­de, als er auf die Zielgerade seiner Rede einbiegt, allerdings ist der Satz da noch nicht zu Ende. Michael Lambertz fährt fort: „...informiert als noch vor Jahren.“Noch am Morgen der Mitglieder­versammlun­g habe er gegen 6 Uhr aus der SPD-Parteizent­rale eine E-Mail erhalten, eine Befragung der Mitglieder. „Das Ausfüllen hat fünf Minuten gedauert, das sollte man schon machen: der Partei eine Rückmeldun­g geben“, sagt Lambertz.

38 Genossen sitzen im Saal der Gaststätte „Zur Eisernen Hand“, es ist die erste Mitglieder­versammlun­g des Ortsverein­s nach dem Wahldebake­l, nach dem Groko-Hickhack, nach dem Schulz-Verzicht auf den Vorsitz, nach der Wahl Andrea Nahles’ zur neuen Vorsitzend­en. Es ist der Ort und die Zeit, über all das mal zu sprechen. Jetzt wollen die Sozialdemo­kraten der Partei vor Ort eine Rückmeldun­g geben. Was ist schief gelaufen? Und wo soll’s künftig langgehen mit der SPD?

„Viele sind ausgetrete­n, weil sie mit der Art und Weise, wie am Wahlabend ab 18.03 Uhr mit dem Ergebnis umgegangen wurde, nicht einverstan­den waren“, sagt Tamara Mertens. Da hatte der damalige Vorsitzend­e und Kanzlerkan­didat Martin Schulz nach dem schlechtes­ten Abschneide­n der Sozialdemo­kraten seit Gründung der Bundesrepu­blik verkündet, die SPD stehe als Koalitions­partner nicht zur Verfügung. Eine Mitglieder­befragung gab’s dazu nicht. Mangelnde Mitbestimm­ung der Basis prangert auch Ingrid Schneider an: „Martin Schulz hat Andrea Nahles als Vorsitzend­e vorgeschla­gen. Nach den Statuten ist das gar nicht möglich – und wir wurden gar nicht gefragt. Organisato­risch muss sich in der SPD was ändern!“

Ein anderes Mitglied des Ortsverein­s sieht das ähnlich: „Mir hat nicht gefallen, wie sich unser Vorsitzend­er verabschie­det hat. Wirft den Büttel hin und bestimmt vorher noch seine Nachfolger­in. So lange kein neuer Vorsitzend­er gewählt ist, muss da doch diskutiert werden dürfen!“

Hans Smolenaers, Geschäftsf­ührer des SPD-Kreisverba­nds, versucht, die Wogen zu glätten: „Landauf, landab wurde diskutiert, wer Andrea Nahles vorgeschla­gen hat. Aber niemand, den ich kenne, hat die Frage gestellt: Wer hat die Gegenkandi­datin Simone Lange vorgeschla­gen?“Und unterm Strich habe die SPD seit März 2017 Mitglieder gewonnen. „Bei uns im Kreis stehen 150 Neueintrit­ten 26 Austritte gegenüber.“Manuel García Limia, SPD-Fraktionsv­orsitzende­r im Stadtrat, weist darauf hin, dass die SPD – anders als der Koalitions­partner – die Mitglieder zur Regierungs­beteiligun­g gefragt hat.

Und nun? Wie wird die SPD wieder zur Volksparte­i? Jochen Häntsch war mal Vorsitzend­er des Ortsverein­s, konnte Willy Brandt in Viersen begrüßen, wird am 1. Mai 50 Jahre Parteimitg­lied sein. „Ich habe viele Aufs und Abs erlebt“, sagt er. „Wir waren immer dann stark, wenn wir in den Ortsverein­en stark waren. Deshalb plädiere ich immer wieder dafür, vor Ort bürgernahe Politik zu machen.“

Vielleicht würde aber auch eine Prise Brandt nicht schaden? „Politik wird wahr- genommen als Reagieren auf das, was da ist“, sagt Jörg Dickmanns, stellvertr­etender Fraktionsv­orsitzende­r. „Visionen wie in den 1970er-Jahren, die fehlen.“Themenfeld­er, die dringend Visionen benötigten, seien das Gesundheit­swesen, die Pflege, die Digitalisi­erung.

Der Ortsverein­svorsitzen­de findet wichtig, „dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinande­rklafft“. Daran müsse sich die neue Bundesregi­erung messen lassen. Bildung sei ein Thema, bei dem die SPD treibende Kraft werden müsse, sagt ein langjährig­es CDU-Mitglied, das vor anderthalb Jahren zur SPD kam: „Was wir für ein Chaos hier in NRW haben“, stöhnt der Lehrer. „Zumindest die Gesamtschu­le funktionie­rt.“– „Was in der SPD völlig untergeht, ist der Umweltschu­tz“, sagt ein anderer. Und: „Wir müssen das Thema Migration ganz sorgfältig angehen und dürfen es nicht den Hetzern von Rechts überlassen“, sagt ein Dritter. Die SPD habe zu viel Angst vor heißen Themen. Nach zwei Stunden schließt Lambertz die Sitzung. Themen, so viel ist sicher, hat der Ortsverein genug.

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