Der tägliche Antisemitismus
Ein junger Mann läuft durch die Straßen Berlins. Er trägt eine Kippa, die Kopfbedeckung religiöser männlicher Juden. Der 21-Jährige ist kein Jude, wohl aber hat er jüdische Verwandte, doch aufgewachsen ist der Israeli in einer arabischen Familie in der Stadt Haifa. Die Kippa hat er an diesem Abend nicht nur aus Anlass der israelischen Gedenktage für die Opfer von Holocaust und Terrorismus aufgesetzt: Er will herausfinden, ob der Freund in seiner Begleitung recht hat. Der hatte gewarnt, dass das Ärger geben könnte.
Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zeigt sich, dass die Warnung berechtigt war. Die beiden begegnen einer Gruppe von Jugendlichen und werden attackiert. „Jahudi“, das arabische Wort für Jude, brüllt ein Angreifer und beginnt, mit einem Gürtel auf den 21-Jährigen einzuschlagen. Der filmt das Geschehen und macht auf eindringliche Weise öffentlich, was sich in den zurückliegenden Jahren im öffentlichen Bewusstsein als dunkle Ahnung stetig vergrößert hat: Es gibt wieder offenen, blanken, hasserfüllten Antisemitismus in Deutschland.
Der Vorfall demonstriert Judenhass in seiner reinsten Ausformung: als feindselige Einstellung gegenüber einer Gruppe, der bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, nicht etwa als Reaktion auf das Verhalten von Individuen. Der junge Mann trug eine Kippa – das reichte. Der Angriff schockiert auch deshalb, weil er kein Einzelfall ist, sondern einen Trend belegt: Noch frisch ist die Erinnerung an Proteste, bei denen jüdische Flaggen vor dem Brandenburger Tor verbrannt wurden. Auch diese Bilder sind hinreichend dokumentiert. Ganz viele andere, wie die Anfeindungen jüdischer Schüler, sind es nicht.
Das Unbehagen dieser Tage wird durch den Skandal um die Echo-Verleihung nicht kleiner: Zwei Rapper, die das Elend von KZ-Insassen ungelenk verspotten, bekommen einen Preis. Aktuell drängt sich der Eindruck auf: Hier verändert sich gerade etwas. Jahrzehntelang in diesem Land wohlweislich gehütete Tabus drohen zu fallen.
Andererseits: Die zum Teil heftigen Reaktionen gegen die schleichende Verrohung gehören mit in das Bild dieses Landes, sie vervollständigen ein Bild, das der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus in seinem ersten von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Bericht so gezeichnet hat: „Antisemitismus – so paradox das klingen mag – ist in der Realität der Bundesrepublik überaus präsent, und das auf vielschichtige Weise: Antisemitismus wird erfahren und erlebt; er wird, wo er sich bemerkbar macht, benannt und bekämpft, aber er wird auch erwartet und befürchtet.“
Für ihren im August 2017 veröffentlichten Bericht hatten die Experten verschiedene demoskopische Untersuchungen ausgewertet, die freilich alle zum selben Ergebnis kommen: Der latente Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung liegt demnach bei 20 Prozent. Neben den klassischen Verschwörungstheorien, wonach Juden zu viel Einfluss hätten, spielt vermehrt der Vorwurf eine Rolle, sie zögen Vorteile aus dem Holocaust oder nutzten ihn für ihre Zwecke.
Der wichtigste politische Träger des Antisemitismus in Deutschland bleibt das rechtsextremistische Lager, das nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes bundesweit etwa 26.000 Anhänger umfasst. Hier wirkt Antisemitismus als bedeutendes ideologisches Bindeglied in der ansonsten keineswegs einheitlichen rechtsextremen Szene, und aus dieser heraus werden auch nach wie vor die meisten antisemitischen Straftaten begangen: 1377 solcher Delikte zählte die Polizei im vergangenen Jahr, 33 Straftaten wurden nicht-islamistischen ausländischen Judenfeinden zugeschrieben, weitere 25 in ausgewählten Ländern 2016 USA Deutschland Vereinigtes Königreich Frankreich Belgien Österreich
Der latente Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung liegt bei 20 Prozent
Russland Polen Italien Anteil der zustimmenden Befragten*