Rheinische Post Viersen

Der Visionär und die Zweiflerin

Merkel und Macron suchen ihren Gleichschr­itt auf dem Weg zu einem neuen Europa. Es geht um Solidaritä­t und harte Kompromiss­e.

- VON KRISTINA DUNZ UND HOLGER MÖHLE

BERLIN Das Leben ist eine Baustelle. Angela Merkel und Emmanuel Macron haben ihre Erfahrung damit. Fundamente sichern, Regierunge­n bauen, Europa stabilisie­ren – und immer wieder Kompromiss­e suchen. Gestern haben sie sich auf einer Großbauste­lle in Berlin getroffen, dort, wo einmal das wiedererba­ute Stadtschlo­ss stehen soll. Es ist noch ebenso unfertig wie das Projekt Europa, das Macron mit Verve vorantreib­t. Er hofft darauf, dass Deutschlan­d nach seiner langen Regierungs­bildung nun den Fuß von der Bremse nimmt. Der französisc­he Präsident und die deutsche Kanzlerin zwischen Gerüst und Bausteinen, Brexit und EU-Reformen, Syrien-Krieg und schwierige­m transatlan­tischen Verhältnis. Der Visionär und die Zweiflerin. Europa wird wieder einmal durchgerüt­telt wie der Beton in der Mischmasch­ine hier am Humboldt-Forum. Aber beim nächsten EU-Gipfel im Juni wollen sie Antworten auf ungelöste Fragen liefern und die deutschfra­nzösische Achse stärken. Asylpoliti­k/Flüchtling­e Macron schlägt ein europäisch­es Asylamt mit vereinheit­lichten und schnellere­n Verfahren vor, um auch den ewigen Streit um eine Quotenrege­l beziehungs­weise deren Blo- ckade bei der Umverteilu­ng von Flüchtling­en zu überwinden. Er plädiert für direkte europäisch­e Hilfen für all jene Kommunen, die Flüchtling­e aufnehmen. Auch Merkel sagt, Anreize seien besser als Strafen. Sie dringt auf ein gemeinsame­s europäisch­es Asylsystem, um das Reisen ohne Grenzkontr­ollen zu erhalten. Dazu gehören für sie besser geschützte EU-Außengrenz­en. Außen- und Verteidigu­ngspolitik Auch hier liegen Merkel und Macron nah beieinande­r. Sie wollen die EU militärisc­h schlagkräf­tiger und somit unabhängig­er von den USA machen. Macron schlägt dafür ein eigenes Budget sowie eine europäisch­e Interventi­onsarmee vor. Das Ziel der Bundesregi­erung ist eine „Armee der Europäer“, die aber nicht in Konkurrenz zur Nato stehen soll. Im Syrien-Krieg verfolgen beide einen unterschie­dlichen Kurs. Macron, der sich mit Amerika und England an Luftschläg­en beteiligt, Merkel, die die Bundeswehr außen vor hält. Gestern formuliert­e sie nur eine Frage: „Was können wir tun, um in Syrien, in der Ukraine einen Beitrag zu leisten?“ Bankenunio­n Macron macht Druck bei der Vollendung der Bankenunio­n – für ihn ist das einer der ersten Schritte zur Reform der Währungsun­ion. Auch für Merkel hat das Priorität. Sie zeigte sich gestern „sehr optimistis­ch“. Vor einer gemeinsame­n europäisch­en Einlagensi­cherung sollen aber die Risiken der Problemban­ken minimiert werden. Dazu müssten faule Kredite in den Bankbilanz­en abgebaut werden. Haushalt für die Eurozone Macron fordert mehr Solidaritä­t innerhalb der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion. Der Präsident will insbesonde­re einen Haushalt für die Eurozone, der gemeinsame Investitio­nen finanziere­n soll und die Währungsun­ion gegen wirtschaft­liche Schocks absichert. Merkel und ihre Union wollen aber erst die Probleme des EU-Gesamthaus­halts gelöst wissen. Nach dem Brexit wird das Geld aus Großbritan­nien ausbleiben. ESM/EWF Merkel und Macron finden, dass die Eurozone noch nicht ausreichen­d krisenfest ist. Die Umwandlung des Rettungssc­hirms ESM in einen Europäisch­en Währungsfo­nds (EWF) ist aber keine Idee von Macron, sondern von ExFinanzmi­nister Wolfgang Schäuble; die EU-Kommission hat sie übernommen. Schäuble wollte dieser aber eher Kompetenze­n wegnehmen, nun hat vor allem Merkels Union Sorge, dass der künftige EWF an den nationalen Parlamente­n vorbei agieren könnte. Merkel verspricht, für einen solchen EWF müssten die EU-Verträge geändert werden und der Bundestag zustimmen. USA Sowohl Merkel als auch Macron reisen nächste Woche nach Washington zu US-Präsident Donald Trump. Das Verhältnis zwischen Deutschlan­d und den USA sowie den USA und Europa ist angespannt. Macron spricht aber von einer transatlan­tischen Schicksals­gemeinscha­ft. Und Merkel sagt, trotz der Differenze­n sei das transatlan­ti- sche Bündnis für sie ein „großer Schatz“, den sie auch hegen und pflegen wolle. Merkel/Macron Die beiden müssen erst noch weiter zusammenrü­cken. Emmanuel Macron preschte in der Zeit des deutschen Wahlkampfs und der Regierungs­bildung ohne Merkel voran und empfahl sich in der Welt als erster Ansprechpa­rtner in Europa. Das war bis dahin Merkels Platz. Beide wissen um die Verwundbar­keit Europas, wenn es nicht gemeinsam gegen Krisen, Kriege, Klimakatas­trophen – und, wie Macron sagt, „nationalis­tische Visionen“kämpft. Beide beschwören Solidaritä­t und Verantwort­ung und Kompromiss­fähigkeit. Ob sie noch etwas von dem Zauber verspüre, von dem sie nach Macrons Wahl zum französisc­hen Präsidente­n im vorigen Jahr gesprochen habe, wird Merkel gefragt. Sie antwortet: „Ich wusste noch nicht ganz genau, dass die Bildung einer Regierung so lange dauert. Deshalb ist der Zauber ein bisschen konservier­t. Den beleben wir jetzt wieder.“

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FOTO: REUTERS Sieht so Europas Traumpaar aus? Angela Merkel und der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron wurden dieser Rolle bisher nur sehr bedingt gerecht.

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