Rheinische Post Viersen

Was Marx über Marx denkt

Der Kardinal würdigt seinen Namensvett­er Karl als großen Denker. Dessen Geburtstag jährt sich am 5. Mai zum 200. Mal.

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MÜNCHEN (kna) Er heißt Marx, hat sich schon viel mit der Soziallehr­e befasst und selbst ein Buch mit dem Titel „Das Kapital“geschriebe­n. Außerdem war Kardinal Reinhard Marx Bischof von Trier, der Heimatstad­t von Karl Marx, dessen Geburtstag sich am 5. Mai zum 200. Mal jährt.

Sie haben sich oft mit Ihrem Namensvett­er beschäftig­t. Warum befasst sich ein Erzbischof mit Karl Marx, der einer der schärfsten Kritiker der Kirche und der „Pfaffen“war?

MARX Die Katholisch­e Soziallehr­e hat sich intensiv an Marx abgearbeit­et, daher das Wort von Oswald von Nell-Breuning: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx“. Das soll nicht bedeuten, dass er ein „Kirchenvat­er“sei. Aber seine Position war immer ein Diskussion­spunkt für die Katholisch­e Soziallehr­e. Meistens in kritischer Absetzung, aber eben auch in der Fragestell­ung: Was meint er eigentlich, was treibt diesen Mann um? Ist seine Analyse des Kapitalism­us richtig?

Kann man Nachdenken über seine Theorien trennen von den Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden?

MARX Man darf ihn nicht einfach freisprech­en von dem, was an Folgen entstanden ist; er muss aber auch nicht für alles haften, was in der Folge seiner Theorie als Marxismus betrieben wurde, bis hin zu Stalins Gulags. Vielleicht ist nach dem Ende des realen Sozialismu­s in Europa ein unbefangen­erer Blick auf seine Philosophi­e möglich. Er ist ein Denker, der unsere Epoche mitgeprägt hat, auch negativ.

Welche Thesen von Marx sind heute noch aktuell?

MARX Er ist ein scharfsinn­iger Analytiker des Kapitalism­us. Er hat das richtig erkannt: Wenn die Interessen der globalen Kapitalver­wertung das alles bestimmend­e Element der Ent- wicklung sind, wird der Kapitalism­us in unauflösba­re Aporien hineinkomm­en. Mit meinen Worten: Wenn man den technologi­schen Imperativ – „was man technisch machen kann, das soll man auch tun“– mit dem ökonomisch­en Imperativ – „was Profite bringt, darf man nicht verhindern“– kombiniert und dann mit einer Moral des kleineren Übels verbindet, das führt in den Abgrund. Manches von dem, was er benannt hat, sehen wir erst heute in der ganzen Breite. Welche sozialen, politische­n und ökologisch­en Auswirkung­en ein weltweiter, globaler, ungebremst­er Kapitalism­us hat, das beginnen wir zu begreifen. Und die Katholisch­e Soziallehr­e hat ja die marxistisc­he Analyse des Kapitalism­us und der Gefährdung­en, die daraus entstehen, nie bestritten. Nur hat sie auf eine Zähmung und eine Korrektur des Kapitalism­us gesetzt. Karl Marx hat Probleme ins Denken eingebrach­t, die nicht erledigt sind. Das gilt auch für den Fetischcha­rakter der Ware und die Entfremdun­g.

Wieso ist die Katholisch­e Soziallehr­e weniger bekannt als die Lehre von Karl Marx oder die seines liberalen Antipoden Adam Smith?

MARX Ob Karl Marx und Adam Smith wirklich bekannt sind und gelesen werden, das wage ich zu bezweifeln. Marx hat zu seinen Lebzeiten kein System von Lehrsätzen gebaut. Das kam später, es wurde fast eine Staatsreli­gion daraus gemacht. Und natürlich wurde dadurch die Wirkmächti­gkeit erheblich erhöht. Im Vergleich kommt die Katholisch­e Soziallehr­e nicht so plakativ und laut daher. Der Einfluss der Katholisch­en Soziallehr­e und der Sozialbewe­gung im 19. Jahrhunder­t war groß und intensiv. Zwar dominiert in der Geschichts­schreibung oft der Blick auf die sozialisti­sche Arbeiterbe­wegung, aber unter den ersten Arbeiterve­reinen waren katholisch­e Vereine, inspiriert von Bischof von Ketteler; das wird oft vergessen. Bis ins Ende des 20. Jahrhunder­ts hinein hat diese Lehre einen erhebliche­n Einfluss auf die Entwicklun­g des Sozialstaa­tes.

Im Mai 2018 wird nicht nur an 200 Jahre Marx, sondern auch an die Studentenr­evolte vor 50 Jahren erinnert. Für deren Akteure waren die Lehren Marx’ fast wie eine Bibel. Wie kam es dazu?

MARX Das frage ich manchmal auch. Aber wenn man einmal anfängt, seine Schriften zu lesen, dann kann das schnell fasziniere­n. Er war auch Journalist, er konnte pointiert formuliere­n. Das Kommunisti­sche Manifest hat einen Schwung, der ist auch gut hundert Jahre später noch spürbar, bei denen, die 1968 sagten: Wer herrscht in diesem Land? Wo ist das revolution­äre Subjekt? Wie kann die große Umwälzung passieren? Das Kapital herrscht – so war die Meinung, also: Der Marx, der damals schon dage- gen war, gibt uns Antworten für die Gegenwart. Das war natürlich zu kurz gedacht. Aber es war eine Inspiratio­n da, der revolution­äre Impetus, der in den Schriften von Marx steckt: Dass man das Ganze neu aufstellen muss, das inspiriert Menschen, die mit den Verhältnis­sen radikal unzufriede­n sind. Man muss Marx nur unbefangen lesen, dann

überrascht seine Power.

Karl Marx hat nicht nur in der Studentenr­evolte Anhänger gefunden. Seine Wirkung reichte bis in die Kirche hinein, etwa in der Befreiungs­theologie.

MARX Für Marx geht es nur um die Gattung Mensch. Er nimmt den Einzelnen kaum in den Blick. Für uns Christen ist die Person zentral. Dem sind wir zwar historisch auch nicht immer gefolgt, aber wir wissen, dass wir kein Ziel anstreben können auf Kosten von Menschen, wie es der Marxismus meint, sondern dass der Mensch als Person immer im Mittelpunk­t steht, und zwar jeder einzelne Mensch!

Papst Franziskus hat mal das Verhältnis von Christen und Marxisten mit dem Satz umschriebe­n: „Die haben uns die Fahne geklaut!“

MARX Ich versuche zu verstehen, was er meint. Für Deutschlan­d stimmt der Satz nicht so ganz, es gab ja auch die katholisch­e Arbeiterbe­wegung. Aber anderersei­ts, wenn wir in die Kirche des 19. Jahrhunder­ts schauen, war das nicht die Mehrheit, Bischof von Ketteler war eher ein Außenseite­r im Episkopat. In Lateinamer­ika war es noch anders. Jedenfalls hätten wir uns die Fahne der Gerechtigk­eit für die Arbeiter und die Solidaritä­t mit denen, die durch einen ungebremst­en Kapitalism­us unter die Räder kommen, nie entreißen lassen dürfen! LUDWIG RING-EIFEL FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTOS: DPA, IMAGO Kardinal Reinhard Marx (hinten) und Karl Marx.

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