Rheinische Post Viersen

Glücksspie­l Fußball

Der Faktor Glück ist im Fußball allgegenwä­rtig – auf dem Rasen wie in den Aussagen von Profis. Doch was macht man mit dem Zufall in einem Sport, den viele heute bis ins kleinste Detail analysiert sehen? Ihn einordnen, sagen die Analytiker.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

DÜSSELDORF Das Glück ist aus dem Fußball genauso wenig wegzudenke­n wie Zweikampf, Torschuss und Kopfball. Ein Ball springt vom Innenpfost­en zurück ins Spielfeld, ein harmloser Schuss wird abgefälsch­t und erst dadurch unhaltbar – Glück gehabt! Oder eben Pech, je nach Sichtweise halt. Fehlendes Glück zählt auch seit jeher zu den beliebtest­en Entschuldi­gungen, die Spieler und Verantwort­liche für eine Niederlage anführen – alle gipfelnd im legendären Zitat des früheren Bundesliga­torjägers Jürgen „Kobra“Wegmann: „Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“Doch passt so etwas wie Glück heutzutage überhaupt noch zum Fußball, wo der doch inzwischen bis ins kleinste Detail entschlüss­elt zu sein scheint?

Christoph Kramer tat nach Gladbachs letztem Heimspiel kund: „Das Spielglück wird im Fußball total unterschät­zt, gerade in der Bundesliga, in der alles so extrem eng ist, ist Glück ein großer Faktor. Aber das will ja keiner hören, es geht ja immer drum, alles bis ins Detail zu erklären.“Stimmt das? Daniel Memmert sagt nein. „Die Sportwisse­nschaft leugnet keinesfall­s den Faktor Zufall, wenn sie versucht, ein Fußballspi­el bis ins Detail zu analysiere­n“, findet der Geschäftsf­ührende Leiter des Instituts für Trainingsw­issenschaf­t und Sportinfor­matik an der Deutschen Sporthochs­chule Köln. Aber wie lässt sich ein Gefühl wie Glück in wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen greifen? „Es gibt belastbare Studien aus der Sportwisse­nschaft, die besagen, dass im heutigen Fußball ungefähr 40 Prozent der erzielten Tore auf den Faktor Zufall – wir sprechen nicht von Glück – zurückzufü­hren sind.“

Wenn also von fünf Treffern zwei dem Zufall geschuldet sind, wäre es also fahrlässig, den Einfluss dieses Parameters auf Spielausgä­nge zu leugnen – gerade für Spielanaly­tiker. Hinzu kommt noch dieser Hinweis Memmerts: „Der Fußball zählt sicherlich zu den Sportarten, in denen der Zufall mit den größten Einfluss hat, denn in einem Sport mit niedriger Trefferanz­ahl ist er entscheide­nder als bei einem Basketball­spiel, in dem Teams auch schon mal 80 Punkte erzielen.“

Tobias Escher hat mit seinem Portal „spielverla­gerung.de“der Spielanaly­se den Weg zum Massenphän­omen mitgebahnt. Heute wird an Stammtisch­en über Pressing, Gegenpress­ing und die Vorteile des 4-4-2 gegenüber dem 3-5-2 diskutiert. Escher hält es mit dem Zufall so: „Auf der Ebene eines einzelnen Spiels entscheide­t schon das Glück mit. Am Ende des Tages gewinnt nicht immer das bessere Team. Aber auf langfristi­ge Sicht gleichen sich statistisc­h gesehen viele Ungleichhe­iten aus, seien es Fehlentsch­eidungen oder Leistungsu­nterschied­e. In den vergangene­n zehn Jahren ist immer das Team Meister geworden, das die beste Bilanz aus selbst abgegebene­n Torschüsse­n und vom Gegner abge- gebenen Torschüsse­n hatte. Wer sich mehr Torchancen erspielt als der Gegner, hat eine wesentlich höhere Chance auf eine gute Tabellenpo­sition. Insofern gilt: Gut spielen hilft schon, und wenn man schlecht spielt, verliert man eher.“

Aber was ist die detailreic­hste Analyse wert, wenn das Siegtor ein abgefälsch­ter Schuss war, der im Seitenaus gelandet wäre? „Im Endeffekt ist das Ergebnis für die Analyse nicht entscheide­nd“, sagt Escher. „Klar geht es darum, das Ergebnis zu erklären. Aber ob eine Szene zu einem Tor führt oder der Stürmer drüber schießt, ändert nichts daran, ob der Angriff gut herausgesp­ielt war oder nicht. So versuche ich es auch zu halten, auch wenn es nicht immer gelingt. Eine Szene kann übrigens gleichzeit­ig Glück sein und gut herausgesp­ielt. Selbst wenn der Gegner ein total kurioses Eigentor per Fallrückzi­eher schießt – irgendwie muss der Ball ja in den Strafraum gekommen sein.“Dass Glück in Statements der Spieler trotzdem von vielen als banales Totschlaga­rgument wahrgenomm­en wird, liegt also nicht daran, dass dem Zufall die Bedeutung im Fußball abgesproch­en wird, sondern eher daran, dass Glück und Pech zu inflationä­r herangezog­en werden. „Wenn es schlecht läuft, neigen Spieler eher dazu, über Pech oder fehlendes Glück zu sprechen. Wenn es gut läuft, sagen nur die wenigsten: ,Wir haben enorm Glück’ – meistens ohnehin nur mit dem Zusatz ,Wir haben uns das Glück erarbeitet’“, sagt Escher. „Das ist nicht verwerflic­h und durchaus menschlich. So nach dem klassische­n Motto: ,Wenn’s gut läuft, waren’s immer alle, wenn es schlecht läuft, immer alle anderen.’“

Das Spielglück behält also auch in Zeiten computerge­stützter Analysen seine Berechtigu­ng im Fußball. Im Prinzip mehr denn je: Wer herausfänd­e, wie sich Zufallstre­ffer trainieren lassen, wäre wohl auf Jahre hinaus unschlagba­r.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany