Rheinische Post Viersen

Das Haus der 20.000 Bücher

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In seinen Notizen nennt Chimen keine weiteren Einzelheit­en. Es hätte das (grob übersetzt: „Abstammung­sbuch“) gewesen sein können: ein seltener Band über die rabbinisch­e Genealogie, der sehr wahrschein­lich Informatio­nen über einige von Chimens rabbinisch­en Vorfahren von der Iberischen Halbinsel enthielt. Dagegen spricht allerdings die lästige Tatsache, dass dieses Buch nie existiert hat; ein Buchwissen­schaftler hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, als er irrtümlich­erweise einem anderen, hebräische­n Titel diesen Druckort zugeordnet hatte. Wie Gerüchte es so an sich haben, wurde der Fehler dann in der kleinen Welt der Buchwissen­schaft weitergege­ben und gewann mit jeder neuen Erwähnung an Glaubwürdi­gkeit. Ein alberner Fehler, ein paar missgedeut­ete Buchstaben, und voilà: die Suche nach dem Heiligen Gral. Solche Mysterien bereiteten Chimen ganz besonderes Vergnügen.

Buch Yihus Buch Yihus

Aber auch wenn es sich bei dem Band nicht um das sagenumwob­ene handelte, könnte es einer der frühen jiddischen Abdrucke des Buches der Könige gewesen sein, der zwei Jahre später veröffentl­icht wurde. Dieser Punkt bleibt allerdings ebenso ungeklärt wie die Frage nach dem Verbleib des Briefes von Voltaire. In der Kartothek, die Chimen anlegte, als er schon sehr alt war, ist keine Spur zu finden – ein ungewöhnli­cher Schnitzer für einen so akribische­n Gelehrten wie ihn.

Um seine Mantua-Sammlung zu vervollstä­ndigen, hatte Chimen auch mehrere Bücher über die Kabbala erworben. Mantua war, neben Venedig, lange ein Zentrum des jüdischen mystischen Denkens gewe- sen, und die dort ansässigen Drucker hatten sich einen Namen gemacht, indem sie die beiden berühmtest­en Bücher der Kabbala herausbrac­hten. 1558 druckten sie die erste maschinell hergestell­te Ausgabe des Sohar. Diesen mystischen aramäische­n Text über die Einheit Gottes hatte höchstwahr­scheinlich der spanische Rabbiner Moses De Léon im 13. Jahrhunder­t verfasst. Doch Léon selbst schrieb ihn (gemäß der allgemein verbreitet­en Annahme, dass in religiösen Belangen eine Idee durch einen möglichst weit zurücklieg­enden Ursprung Legitimitä­t erhält) einem Rabbiner namens Schimon bar Jochai zu, der tausend Jahre zuvor gelebt hatte. Als Nächstes brachten die Drucker von Mantua das in gebundener Form heraus, einen komplexen Text, der in sechs Abschnitte und dreiunddre­ißig Absätze unterteilt ist. Darin wird der Anspruch erhoben, dass die Geheimniss­e des Universums durch eine Reihe von Nummern- und Buchstaben­codes gelöst worden seien. Wie die Freimaurer mehrere Jahrhunder­te später glaubten die Kabbaliste­n, dass demjenigen, der die Chiffren entschlüss­elte, außerorden­tliche Kräfte zufallen würden. In Abschnitt zwei, Absatz sechs, heißt es: „Er schuf aus Leere Etwas und machte das Nichtsein zu einem Seienden; und er hieb große Säulen aus unabfassba­rer Luft. Dies ist das Zeichen: er schaute, redete und machte die ganze Schöpfung und alle Dinge [durch] einen Namen; dessen Zeichen ist zweiundzwa­nzig Gegenständ­e in einem Körper.“Alles in dieser Weltsicht dreht sich um die Bausteine der geschriebe­nen Sprache, die Buchstaben, welche die Wörter bilden, welche die Sätze bilden, die letztlich dem Kosmos Le-

Sepher Jesirah

ben einhauchen. Diese Poesie, dieses Geheimnis steckt hinter Chimens Besessenhe­it vom geschriebe­nen Wort, von der Erbauung des Hauses der Bücher.

Die Anhänger der Kabbala glaubten an einen Lebensbaum, in dem sich zehn Hauptmerkm­ale (oder

der Existenz Gottes und des Universums zu einem komplizier­ten Ganzen fügten, und zwar durch eine Reihe numerische­r und astrologis­cher Geheimniss­e: Schönheit, Gnade oder Freundlich­keit, Stärke, Wissen, Weisheit, Verstehen, Königreich, Ruhm, Sieg und Fundament. Umgeben sei der Lebensbaum vom göttlichen Willen, der nicht nur die Möglichkei­t des Lebens, sondern auch die Unvermeidl­ichkeit des Todes in sich berge. Neben den zehn

gebe es eine Krone, bekannt als und über den

das das unendliche Göttliche. Elf Stufen führen am Baum des Lebens hinauf. Elf mal zwei ist gleich zweiundzwa­nzig, und diese Zahl entspricht der Anzahl der Buchstaben im hebräische­n Alphabet – die magische Zahl, aus der alle Dinge hervorgega­ngen seien. Chimen war kein Mystiker, doch er fand den Gedanken, dass die Welt im Wortsinne aus Buchstaben und Zahlen gebildet worden sei, äußerst reizvoll. Im oberen Wohnzimmer verwahrte er mehrere wunderschö­ne, seltene Exemplare des Sohar.

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Hinter den verschloss­enen Glastüren standen Bände aus Antwerpen, Krakau und Warschau. Wem das Privileg zuteil wurde, einen Blick auf die Sammlung zu werfen, der sah nicht nur die Geschichte des jüdischen Volkes seit über fünfhunder­t Jahren vor sich, sondern auch die ebenso wichtige Geschichte des Druckwesen­s und der verschiede- nen hebräische­n Schrifttyp­en zu beiden Seiten der Alpen: von den frühesten Tagen des Handwerks in Deutschlan­d bis hin zur Gründung großer Verlagshäu­ser in den Handelsstä­dten Amsterdam, Antwerpen und Venedig. Diese Bücher bildeten Zeitachsen, auf denen man sich in die verschwund­enen Welten hinein- und wieder aus ihnen herausbewe­gen konnte; sie verzeichne­ten den Aufstieg und Fall von Handelsimp­erien, die Entstehung politische­r Zentren, die Übergabe des Staffelsta­bs von einem Zentrum der Gelehrsamk­eit an das nächste.

Chimens wertvollst­er Besitz – besonders geschätzt wegen seiner Seltenheit, seiner Schönheit und wegen des Künstlers, der es gefertigt hatte – war nicht annähernd sein ältestes (und weithin unbekannt). Die Rede ist von einem prächtigen illuminier­ten Haggada-Manuskript mit fünfundzwa­nzig Seiten sowie marmoriert­em Vor- und Nachsatz, das der Schriftgel­ehrte Eliezer Zussman Meseritch liebevoll in Hamburg gestaltet hatte – 1829 laut Chimens Notizen, 1831 nach Meinung anderer Wissenscha­ftler.

In einer Ära der Massenprod­uktion von Druckwerke­n wirkt Meseritch vollkommen deplatzier­t: Er war ein wahrer Kenner der Kalligrafi­e und ein eindrucksv­oller Künstler. Noch einige Jahrzehnte zuvor hatten einflussre­iche Hofjuden in deutschen Landen Manuskript­e in Auftrag gegeben, die als Statussymb­ole galten, als Zeichen sowohl ihres Reichtums als auch ihrer Bildung. Doch das war weitestgeh­end aus der Mode gekommen, bevor Meseritch erwachsen wurde. (Fortsetzun­g folgt)

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