Merkels Realismus und Macrons Utopie
Die Welt ist in Unordnung, in Aachen trifft sich das politische Europa. Frankreichs Präsident Macron erhält den Karlspreis als „Hoffnungsträger“für ein neues Europa. Kanzlerin Merkel lobt dessen Leidenschaft. Doch ihre inhaltliche Antwort bleibt vage.
AACHEN Es sind zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher kaum sein können, die am Donnerstag im historischen Krönungssaal des Aachener Rathauses die Zukunft Europas definieren sollen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron tritt ans Rednerpult, und es scheint, als verleihe ihm die schwere Kette mit dem goldenen Karlspreis-Orden eine besondere Gravität. „Wir müssen für etwas eintreten, das größer ist als wir selbst“, sagt er und ballt die Faust. Der Traum von der Einheit Europas müsse immer wieder neu gelebt werden. „Sonst wird er sterben. Seien wir nicht schwach, seien wir nicht ängstlich, spalten wir uns nicht“, ruft er vom Pult in den Saal, dessen Wänden die Fresken von Karl dem Großen schmücken, dem Namensgeber des Karlspreises.
Pathos, das kann der Präsident. Man spürt aber auch Leidenschaft und Überzeugung. Europa müsse sich wirklich reformieren, alte Tabus aufbrechen, weg von Routine und Trippelschritten, mahnt der 40jährige Jungstar der europäischen
„Wir brauchen eine Vision für 30 Jahre“
Emmanuel Macron
Frankreichs Präsident
Politik. Die aktuelle Krise, der tiefe Graben zwischen den USA und Europa in der Iran- und in der Handelsfrage, ist für Macron der richtige Zeitpunkt, um die „europäische Souveränität“anzupacken, die er in vielen seiner Reden fordert. „Wir brauchen eine Vision für 30 Jahre, dann kann man mit kleinen Schritten weitergehen.“Applaus im Saal.
Macron will die große Reform. Und er will sie so schnell wie möglich. Ein Europa der Kultur und der Universitäten, eine einheitliche Außen-, Bildungs-, Finanz- und Sicherheitspolitik. Ja, auch eine stärker integrierte Eurozone mit eigenem Haushalt. Haushaltsüberschüsse dürften kein „Fetischismus“sein. Kanzlerin Merkel sitzt hinter ihm auf der Bühne und verzieht ihre Miene. Geschickt nimmt Macron die Sorgen vieler Deutscher vor einer Finanzpolitik nach dem Gusto Frankreichs auf. „Frankreich hat sich geändert“, sagt er. Frankreich wolle Europa um Europas willen. Die Demagogen und Nationalisten führten eine klare Sprache, warnt der Präsident. „Wer Europa will, muss genauso klar sein.“Macron blickt zu Merkel Dann sagt er: „Europa ist eine Utopie, aber wenn wir daran arbeiten, kann sie Realismus werden.“Es ist die Brücke zwischen den politischen Methoden der Kanzlerin und denen des Präsidenten. Hier der Visionär Macron, dort die Realistin Merkel. So sieht es Macron. Im Saal sitzen die EuropaEuphoriker. Sie wollen den Visionär. Applaus im Stehen für Macron.
Und Merkel? Schon am Vorabend der Verleihung, beim Ehrendinner mit Staats-und Regierungschefs aus ganz Europa, wurde die Frage heiß diskutiert, ob die Kanzlerin die Verleihung des europäischsten aller Preise für eine starke Antwort auf Macrons Reformideen nutzen würde. Merkels Antwort fällt nüchtern aus. Vorsichtig, aber – das muss man auch sagen – nicht ohne europäischen Ehrgeiz. Der „liebe Emmanuel“bekomme zu Recht diesen Preis, lobt die Kanzlerin. „Er weiß, was Europa im Innersten zusammenhält.“Wenn sie mit ihm zusammenarbeite, spüre sie den „Zauber Europas“. Es wirkt, als lobe die erfahrene Politikerin den ungestümen jungen Mann, der die Mühen der Ebene erst noch erleben wird. Die Kanzlerin verweist auf den Geburtsort Macrons, die Stadt Amiens im Norden Frankreichs, im Zweiten Weltkrieg heftig umkämpft. Eine Stadt, in der „eine ganze Generation in Schützengräben verblutete“. Europa habe Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gebracht. Und nur die europäische Einigung sei in der Lage, diese Errungenschaften in der Zukunft zu sichern. Europa, das Friedensprojekt. Da sind sich alle einig, aber wie weiter?
Merkel betont Gemeinsamkeiten. Das gemeinsame Asylsystem, die Sicherung der Außengrenzen, die europäische Wissensregion und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Auch bei Investitionen in Krisenländern. Aber bei der Währungsunion, der Zukunft des Euro, das gibt sie zu, ist die Diskussion schwierig. Merkel spricht leiser als Macron, langsamer. Von Applaus wird sie nur unterbrochen, wenn sie Macron zitiert. „Ja, Europa lebt von der Leidenschaft“, sagt sie, und es wirkt, als wolle sie sich entschuldigen, dass sie bei diesem Thema die falsche Ansprechpartnerin ist.
Es ist eine typische Merkel-Rede. Klug, besonnen, nachvollziehbar. Aber der Funke springt nicht über. Ex-Außenminister Joschka Fischer mäkelt über die „nüchterne, wenig überraschende Rede“. FDP-Chef Christian Lindner twittert, dass Merkel es verpasst habe, „konkrete Antworten auf die konkreten Vorschläge“zu geben. Und der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser spöttelt. Die Kanzlerin habe ihre Ideen für ein starkes Europa „geschickt verheimlicht“. Ex-SPD-Chef Martin Schulz, wie Merkel einst auch Karlspreisträger, betont immerhin, dass ihr Verweis auf das Europakapitel im Koalitionsvertrag ein Signal der Erneuerung sei. Die deutschen Ideen seien „konstruktiv und komplementär“zu Macrons zu sehen.
Die Karlspreis-Verleihung 2018 ist anders als in früheren Jahren. Der Zerfall des Westens durch die einseitige US-Politik, der Siegeszug der autoritären Machthaber im Nahen und Fernen Osten, machen die Einheit Europas nicht mehr nur zur guten Option, sondern zur Notwendigkeit. Die Vertreter des politischen Europa, die hier im Dreiländereck den französischen Karlspreisträger feiern, von Ratspräsident Donald Tusk über den früheren EZB-Chef Jean-Claude Trichet bis zur litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite, sind sich beim Dinner am Vorabend der Verleihung immer wieder einig. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ist der Satz, der oft fällt.