Rheinische Post Viersen

Von Mevlüde Genç können wir viel lernen

- VON MICHAEL BRÖCKER

Fünf junge Frauen im Alter zwischen vier und 27 Jahren sterben in den Flammen ihres Hauses. An dem Ort, der ihnen Heimat geworden war. Entfacht hatte das Feuer ein rechtsradi­kaler Mob. Mörder mit rassistisc­hen Motiven. Auch 25 Jahre danach steht Solingen für eines der schwersten und brutalsten Verbrechen von Neonazis im Nachkriegs-Deutschlan­d. Nur ein halbes Jahr zuvor waren in Mölln drei Türkinnen bei einem Brandansch­lag ums Leben gekommen. Ebenfalls waren Rechtsradi­kale die Täter. Solingen und Mölln sind Chiffren für Fremdenhas­s geworden, auch wenn es diesen Städten natürlich nicht gerecht wird.

Wir wissen, dass die menschenve­rachtende Haltung von damals auch heute von Flensburg bis Passau und von Aachen bis Rostock in der Gesellscha­ft verwurzelt ist. Fremdenhas­s gibt es im kleinen Kaliber. Er äußert sich abfällig über Dunkelhäut­ige, Türken, Syrer. Er kann brutal sein, wie die Übergriffe auf Flüchtling­sheime zeigen. Und er zeigt sich als systematis­cher Terror von rechts wie bei den NSU-Morden. Die schmerzlic­he Wahrheit ist: Deutschlan­d, das den millionenf­achen Massenmord im NaziReich aus einer abartigen völkischen Ideologie heraus begründete, ist Ausländerf­eindlichke­it nie ganz losgeworde­n. Gedenktage wie der gestrige mahnen uns, dass der Kampf gegen den Hass auf Fremde ein langwierig­er ist. Aber er muss geführt werden. Der „Aufstand der Anständige­n“, den Gerhard Schröder im Jahr 2000 nach einem Anschlag auf die Düsseldorf­er Synagoge einfordert­e, geht weiter. Und sei es als Widerspruc­h gegen rassistisc­he Kommentare in sozialen Netzwerken. Treffend, was NRW-Regierungs­chef Armin Laschet sagte: „Es ist mehr als Solingen – es geht uns alle an.“

In der aufgeregte­n Debatte um Zuwanderun­g aus muslimisch­en Kulturkrei­sen muss die aufgeklärt­e deutsche Gesellscha­ft aber beides schaffen. Den Fremdenhas­s aus den Köpfen holen, mit Leidenscha­ft und viel Bildung von früh an, aber trotzdem über die Unfreiheit­en in fremden Kulturen sprechen, das Kritikfähi­ge am Multikultu­ralismus herausarbe­iten. Vielfalt ist kein Wert an sich, wenn eine falsch verstanden­e Rücksicht auf kulturelle Eigenarten die Grund- und Menschenre­chte in unserer Demokratie überdeckt. Kritik am politische­n Islam geht auch ohne rassistisc­he Motive. Was das friedferti­ge Miteinande­r von Kulturen ausmachen könnte, hat die unbeugsame Mevlüde Genç gestern eindrucksv­oll bewiesen. Die 75-Jährige hat am Morgen des 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Doch sie lebt weiter in Deutschlan­d. Ohne Hass. „Wir alle sind Kinder eines Gottes“, hat sie gestern gesagt. „Was wir brauchen, ist Liebe im Herzen. Ansonsten ist nichts von Wert.“Wenn wir alle ein bisschen mehr wie Mevlüde Genç wären, müsste man solche Texte wie diesen wohl nicht mehr schreiben. BERICHT MERKEL: WERDEN SOLINGEN NIE VERGESSEN, TITELSEITE

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