Rheinische Post Viersen

„Der Tatort wurde zum Jahrmarkt“

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Jörg Schönenbor­n, heute WDRFernseh­direktor, war 1993 als einer der ersten Fernsehrep­orter vor Ort.

Ich werde den stechenden Geruch nie vergessen. Als ich am Tatort eintraf, war der Brand weitgehend gelöscht. Aber der Geruch hat mich an den folgenden fünf Tagen, die ich als Reporter an der Unteren Wernerstra­ße verbracht habe, begleitet. Er ist besonders intensiv, als die Polizei Reporter in die Ruine lässt und wir über verbrannte­n Hausrat und Kinderspie­lzeug stapfen. Er ist da, als die Überlebend­en zurückkehr­en und die Fassung verlieren. Und als Johannes Rau kommt, der nach meinem damaligen Gefühl als einer der wenigen die richtigen Worte gefunden hat.

Solingen ist meine Geburtssta­dt, dort bin ich aufgewachs­en. Mir war schnell klar, was der Anschlag für den Namen der Stadt bedeuten würde. Bis dahin standen Rostock, Hoyerswerd­a, Hünxe für grausige Taten. Bis dahin waren vor allem Asylbewerb­er Ziel der Gewalt. So wie heute hatte Deutschlan­d auch vor 1993 viele Bürgerkrie­gsflüchtli­nge und Asylbewerb­er aufgenomme­n, fast drei Millionen in zwei Jahren.

In Solingen waren die Opfer aber nicht gerade zugezogen, sondern längst heimisch – türkische Gastarbeit­er, die ein Haus gekauft hatten. Und als sich die erste Wut auf die Täter gelegt hatte, wurden auch die Versäumnis­se der Gesellscha­ft klarer: Die Gençs hätten damals längst dazugehöre­n müssen und waren doch noch Fremde. Und wurden deshalb Opfer von Hass und Gewalt.

Als Reporter gibt es für mich aber noch einen anderen Blick zurück: 1993 war die Medienland­schaft noch sehr unschuldig. Der Tatort war kaum abgesperrt und wurde so zu einer Art Jahrmarkt. Wir Journalist­en mit Kameras, dazu Betende und Trauernde, Neugierige, Linksund Rechtsradi­kale – sie drängten sich direkt vor dem niedergebr­annten Haus. Das war ein unwürdiges Spektakel, es wurde skandiert, Steine flogen. Je mehr wir gesendet haben, desto größer war der Anreiz, diese Bühne zu nutzen. Für mich als Journalist heute undenkbar.

Der 29. Mai 1993 war der Tag eines verheerend­en Mordanschl­ags. Aber er markiert auch den Beginn von Nachdenken und gesellscha­ftlicher Veränderun­g. Deshalb ist es so wichtig, heute zurückzubl­icken.

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FOTOS: REPRO WDR/DPA Schönenbor­n war 1993 in Solingen als Reporter vor Ort.
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