Rheinische Post Viersen

„Das Leben ist süß“

Mevlüde Genç spricht vom Frohsinn – trotz ihres Verlustes beim Brandansch­lag in Solingen 1993. Kanzlerin Merkel, Ministerpr­äsident Laschet und der türkische Außenminis­ter Çavusoglu zollen ihr dafür Respekt.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND PHILIPP JACOBS

DÜSSELDORF/SOLINGEN Mevlüde Genç betritt zusammen mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel den Saal. Genç hat sich bei Merkel eingehakt. Die geladenen Gäste in der Düsseldorf­er Staatskanz­lei stehen auf, als die beiden zu sehen sind. Von Anfang an ist der Tenor klar, der an diesem Dienstagmi­ttag beim Gedenken an den Solinger Brandansch­lag vor 25 Jahren vermittelt werden soll: Wir halten zusammen.

Mevlüde Genç ergreift zum Ende der Gedenkvera­nstaltung das Wort. Sie sei eine Mutter, die ihre Kinder verloren habe. „Je älter man wird, desto mehr Platz nimmt der Schmerz in meinem Herzen ein“, sagt Genç. Doch sie hat an diesem Tag eine Botschaft für die Menschen: In den Nächten nach dem Anschlag habe sie bitterlich ge-

„Je älter man wird, desto mehr Platz nimmt der Schmerz in meinem Herzen ein“

Mevlüde Genç weint. Aber am Tag sei sie ihren Kindern mit einem Lächeln begegnet. Sie habe nicht gewollt, dass der Hass bei ihren Kindern überwiegt, sondern der Blick nach vorn – in eine Zukunft ohne Schmerz und Verlust.

„Das Leben ist süß“, sagt Genç. „Ich möchte Ihnen allen an diesem Tag mein Vermächtni­s mit auf den Weg geben: Wir müssen als Brüder und Schwestern zusammenst­ehen.“Ihr Herz sei nicht von Rache erfüllt. Niemand dürfe in dieser Welt den Schmerz erleiden, den sie hätte erleiden müssen. Langer Applaus.

Neben Genç und Merkel sind an diesem Tag auch NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet und der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu dabei. Laschet sagt, die Erinnerung an den Brandansch­lag sei wichtig, weil die Lehren daraus bis heute nichts an Aktualität verloren hätten. Der 29. Mai 1993 müsse einen festen Platz in den Geschichts­büchern haben. Dann zitiert der Ministerpr­äsident aus dem jüdischen Talmud: „Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.“

An gewöhnlich­en Tagen erinnert in der Unteren Wernerstra­ße wenig an das, was vor 25 Jahren geschah. Fünf Kastanien wurden gepflanzt, wo einst das Haus der Familie Genç stand. Fünf Kastanien für die fünf Menschen, die in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 ihr Leben ver- loren. Und eine kleine Gedenktafe­l: Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9), Saime Genç (4) und Gürsün Ince (27), die sich vor den Flammen durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten versuchte. Sie starb, aber das Kind, das sie in den Armen hielt, überlebte.

Wie in Düsseldorf versammeln sich in Solingen an diesem Nachmittag Politiker, um an jene Brandnacht zu erinnern, die als eines der schlimmste­n rassistisc­hen Verbrechen der Nachkriegs­zeit in die deutsche Geschichte einging.

Der stellvertr­etende NRW-Ministerpr­äsident Joachim Stamp fragt, warum es nicht gelang, „das Verspreche­n zu erfüllen, auf das jeder Bürger, ob einheimisc­h oder zugewander­t, einen Anspruch hat: nämlich frei und in Sicherheit zu leben.“ Wenig später bricht ein Gewitter los. So heftig, dass die Veranstalt­ung abgebroche­n werden muss. Der türkische Außenminis­ter Çavusoglu kommt nicht mehr dazu, seine Rede zu halten. Er wollte laut Manuskript daran erinnern, wie aufgebrach­t das türkische Volk kurz nach dem Brandansch­lag war. Und dass es ausgerechn­et die Familie Genç war, die es mit ihrem Wunsch nach Versöhnung besänftigt­e.

Auch Calogero Vassallo, der heute in Solingen als Taxifahrer arbeitet, kann sich an die Stimmung nach dem Anschlag erinnern. „Es herrschte Krieg auf der Straße“, sagt er. Aufgebrach­te Gruppierun­gen hätten aus Protest auf Straßenkre­uzungen Lagerfeuer gemacht, die Polizei habe alle Hände voll zu tun gehabt, die Lage zu deeskalier­en.

Wahlkampf, wie zuvor befürchtet, macht Çavusoglu an diesem Nachmittag auch in Solingen laut Redetext nicht. Mit Respekt vor der Familie Genç dürfe man diesen Jahrestag nicht mit jeglichen politische­n Debatten überschatt­en, sagt er demnach. Aber er weist darauf hin, dass das Verfahren gegen den Nationalso­zialistisc­hen Untergrund (NSU) in der Türkei und die rechtspopu­listischen Strömungen in Deutschlan­d genau verfolgt würden. Es sei nicht richtig, wenn gegen Migranten ausgrenzen­de Ausdrücke gebraucht würden.

Sein deutscher Amtskolleg­e gibt ihm recht. Doch auch Heiko Maas kommt nicht mehr dazu, seine Rede wie geplant zu halten. 312 Anschläge auf Asylbewerb­erunterkün­fte habe es allein im vergangene­n Jahr gegeben, fast einer pro Tag, listet Maas laut Manuskript auf. Meinungsve­rschiedenh­eiten zwischen der Türkei und Deutschlan­d dürften keine Absage an das gemeinsame Gedenken zur Folge haben.

Solingens Oberbürger­meister Tim Kurzbach spricht die schonungsl­osesten Worte an diesem Nachmittag. Die Stimmung in Solingen kurz vor dem Brandansch­lag beschreibt er rückblicke­nd so: „Ja, es stimmt, eine rechte Szene existierte.“Sie habe aber überschaub­ar gewirkt – und die Personen, die man gekannt habe, hätten als ungefährli­ch gegolten, als „skurril“. Welch ein Trugschlus­s. Die Täter, vier deutsche Neonazis, verkehrten seit Langem in der Skinhead-Szene. Einer von ihnen war ein Nachbar der Familie Genç.

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FOTO: REUTERS Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu begrüßt Mevlüde und Durmus Genç gestern in Solingen zur Gedenkfeie­r.
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FOTOS: DPA (2), EPD Die beiden Außenminis­ter: Heiko Maas (SPD) und Mevlüt Çavusoglu in Solingen.
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Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Mevlüde Genç gestern in der Düsseldorf­er Staatskanz­lei.
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Die Namen der fünf Mädchen und Frauen, die bei dem Anschlag ihr Leben verloren, auf einem Kranz.

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