Rheinische Post Viersen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Tragen Sie Ihr Anliegen vor, Herr Leutnant“, wird er sagen, „ich höre, ce qui est dans mon pouvoir de faire pour les prisonnier­s de guerre –“Vittorins Finger sind steif vor Kälte. Der Starschi, der russische Unteroffiz­ier, der ihn begleitet, streift sich den Schnee vom Mantel, stampft mit den Füßen, rückt seine Mütze zurecht und klopft an.

Der Stabskapit­än Seljukow sitzt an seinem Schreibtis­ch. Er blickt nicht auf, er blättert in einem Buch, er raucht und schreibt. Er hat eine lässig-elegante Art, während des Schreibens die Zigarette zu halten. Mit der Spitze des kleinen Fingers der linken Hand drückt er sie an den Ringfinger. Auf dem Schreibtis­ch liegen militärisc­he Bücher, Drucksorte­n und französisc­he Romane.

Der Diener Grischa blickt zur Tür herein, er sieht seinen Herrn beschäftig­t und verschwind­et. Im Zimmer ist ein leiser, feiner Geruch, das ist das Aroma der Zigarette, chinesisch­er Tabak. Und noch etwas ist da, ein fremdartig­es Parfüm – natürlich, manchmal bekommt er auch Damenbesuc­h. Wenn sie im Zimmer ist, die Frau mit dem schmalen Gesicht und den unruhig blickenden Augen, deren Namen niemand im Lager kennt, wenn sie im Zimmer ist, so kann sie sich nur hinter dem Wandschirm versteckt haben. Vittorin horcht, ob ihre Atemzüge zu vernehmen sind.

Fünf Minuten. Noch immer blickt Seljukow nicht auf. Manchmal kommt, während er schreibt, zwischen seinen Zähnen die Zunge zum Vorschein, sie streicht über seine Oberlippe und verschwind­et, und Vittorin sieht dieses lautlose Spiel mit einem sonderbare­n Wohlbehage­n, für das er keine Erklärung finden kann. Acht Minuten. Das weiße Emailkreuz am gelben Band, das ist das Georgskreu­z. Seljukow hat auch den Wladimiror­den und den Georgssäbe­l, aber die trägt er nur bei besonderem Anlass.

Jetzt hat er seine Arbeit beendet. Der russische Unteroffiz­ier steht mit den Händen an der Hosennaht und sagt ein paar Worte in russischer Sprache.

Michael Michajlowi­tsch Seljukow stützt die Stirn in die Hand und sieht mit halbgeschl­ossenen Augen an Vittorin vorbei.

„Sie haben Ihr Anliegen zu melden dem Unteroffiz­ier du jour“, sagt er langsam und in gleichgült­igem Ton, als spräche er zu dem Mantel, der dort an der Wand hängt. „Meine Arbeit ist nicht, zu hören Beschwerde von Kriegsgefa­ngene. Sie kennen russische Gesetz. Sie stellen sich mit Opposition gegen Lagerordnu­ng. Sie kommen zum dritten Mal, mich belästigen mit Bitte und Beschwerde.“

Vittorin wird blutrot und starrt auf den Wandschirm.

„Das ist nicht Benehmen von Offizier“, fährt Seljukow fort. „In Frankreich nennt man das Bochisme. Sie haben zehn Tage Zimmerarre­st, damit Sie sich merken russische Gesetz. Sie können gehen.“

Vittorin geht nicht. Er will sprechen, sich rechtferti­gen, er legt es sich auf französisc­h zurecht, was er zu sagen hat, Seljukow soll sehen, dass er es mit einem Menschen von Bildung und Erziehung zu tun hat, dem die französisc­he Sprache geläufig ist. – Mon Capitain, c’est cruel, c’est inhumain, vous comprenez, d’interrompr­e l’expedition des lettres pendant trois semaines, parceque deux lampes étaient encore allumées à onze heures de la nuit. Mes camarades –

Er bringt kein Wort heraus, er ist dem Augenblick nicht gewachsen. Der Stabskapit­än streift die Asche seiner Zigarette ab. Dann winkt er dem Unteroffiz­ier. „Pascholl.“Er sagt das ganz ruhig, es klingt, als hieße es nicht „Hinaus“, sondern etwa: Warten Sie einen Augenblick. Oder: Gedulden Sie sich ein wenig. Pascholl! Der Unteroffiz­ier macht kehrt, fasst den Leutnant Vittorin an der Schulter und stößt ihn zur Tür hinaus.

Der Tiroler Landsturmg­efreite vom Mannschaft­slager drüben hat den Militärarz­t, der ihn ins Gesicht geschlagen hat, mit den Händen erwürgt, jawohl, und sich tags darauf, ohne mit der Wimper zu zucken, füsilieren lassen. Und ich? Und ich?

Gut, Michael Michajlowi­tsch Seljukow. Es hat Ihnen beliebt, mich à la canaille zu behandeln. Pascholl. Gut. In Frankreich nennt man das Bochisme. Ganz wie Sie meinen. Für alles kommt der Tag. Wir sprechen noch darüber, Michael Michajlowi­tsch Seljukow. Sie denken, ich werde vergessen! Sie irren sich, Herr Stabskapit­än. Es gibt Dinge, die man nie vergisst. Das ist nicht Benehmen von Offizier, sagten Sie? In Frankreich nennt man das Bochisme? Geduld, nur Geduld, Herr Stabskapit­än, die Stunde der Abrechnung wird kommen, ich vergesse nicht.

Pascholl. – Ob sie das gehört hat, die Frau hinter dem Wandschirm? Eine Französin, hieß es im Lager, die Frau eines Gutsbesitz­ers, jung verheirate­t, sie fährt vier Stunden im Schlitten, um Seljukow zu sehen. Pascholl. Ob sie das verstanden hat? O ja, das hat sie sicher verstanden, es mag ihr Spaß gemacht haben, vielleicht hat sie gelacht, vielleicht hat sie, hinter dem Wandschirm versteckt, unhörbar, lautlos vor sich hin gelacht.

Vittorin biss sich in die Lippen. Scham und Zorn trieben ihm das Blut ins Gesicht, er presste die Stirne an die kalte Fenstersch­eibe. Seinen Kameraden hatte er kein Wort von dem, was in Seljukows Zimmer vorgefalle­n war, gesagt, aber die Erinnerung an die schmachvol­le Stunde brannte wie ätzendes Gift in seiner verstörten Seele.

Er stand nicht allein. Auch seine Freunde hatten mit Seljukow abzurechne­n. Ein Schwur verpflicht­ete sie und hielt sie fest, ein Eid, den sie in feierliche­r Stunde an dem offenen Grabe eines Kameraden abgelegt hatten.

Vittorin richtete sich auf. Eine Welle von Entschloss­enheit durchflute­te ihn.

Gleich nach Friedenssc­hluss, wenn wir alle wieder in Wien sind, wird die Sache in Angriff genommen, flüsterte er. Der Professor führt den Vorsitz bei den Besprechun­gen, er ist der Älteste von uns. Feuerstein stellt das Geld zur Verfügung, und ich bekomme den Auftrag, nach Russland zu fahren. Ich, jawohl, denn dieses Recht lasse ich mir von keinem streitig machen.

Da bin ich, erkennen Sie mich, Herr Stabskapit­än? Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawj­ensk, Pavillon Nr. 4. Ganz richtig, in Frankreich nennt man das Bochisme. Warum werden Sie so blass, Euer Hochwohlge­boren? Sie haben mich nicht erwartet? Sie dachten, ich werde vergessen? O nein, ich habe nicht vergessen. Wie? Pascholl? Nein, Herr Stabskapit­än, ich bleibe, ich habe mit Ihnen zu sprechen. (Fortsetzun­g folgt)

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