Rheinische Post Viersen

Neue Wohnungen braucht das Land

- VON KIRSTEN BIALDIGA

HÜRTH Es ist nur eine kleine Schwelle auf dem Weg zum Balkon, nicht höher als fünf Zentimeter. So unauffälli­g ist sie, dass NRW-Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch ( CDU) sie gar nicht wahrnimmt – wie auch sonst keiner ihrer Begleiter. Der Rollstuhl aber parkt davor. „Für einen Rollstuhlf­ahrer ist das bereits ein Hindernis. Er muss Anlauf nehmen, um es zu überwinden“, erläutert Ernst Uhing, Präsident der Architekte­nkammer Nordrhein-Westfalen.

Die Bauministe­rin ist heute nach Hürth gekommen, um sich ein Wohnquarti­er anzuschaue­n, das als vorbildlic­h gilt. Hier, im „Kirschblüt­en-Carré“, wohnen seit acht Jahren Behinderte und Nicht-Behinderte auf engstem Raum beieinande­r, aber auch Alte und Junge, Kranke und Gesunde – sowie sozial Benachteil­igte mit gut Situierten.

Es gibt eine sogenannte BeatmungsW­G, in der Schlaganfa­ll-Patienten zusammenle­ben. Es gibt zwei Wohnungen mit sechs Zimmern für kinderreic­he Familien und eine integrativ­e Kita. Und es gibt eine „Verselbsts­tändigungs­WG“, in der Sozialarbe­iter jugendlich­e Behinderte auf ihren Weg in ein möglichst eigenständ­iges Leben vorbereite­n. Die Flure dort sind so breit, dass sich zwei Rollstuhlf­ahrer ohne Probleme begegnen können.

Der Besuch der Bauministe­rin birgt einige Brisanz. Die Wohnungsno­t ist eines der größten Probleme im Land. In Nordrhein-Westfalen eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist nach Ansicht von Experten so schwer wie zuletzt in der Mitte der 90er Jahre. Laut aktuellem Wohnungsba­rometer der NRW-Bank trifft die Wohnungskn­appheit zunehmend auch die Mittelschi­cht in Ballungsze­ntren. „Die Nachfrage steigt, der Neubau findet jedoch eher im hochpreisi­gen Segment statt“, heißt es in der Studie der NRW-Bank. Die befragten Experten sehen für die kommenden Jahre keine deutliche Entspannun­g der Situation. Immer mehr Menschen zögen nach Nordrhein-Westfalen und wollten in Groß- und Universitä­tsstädten leben. Insbesonde­re in den Bal- lungszentr­en brauche es mehr bezahlbare­n Wohnraum.

Zeitgleich schrumpft das Angebot an geförderte­n Mietwohnun­gen, da zuletzt viele ältere Bestände im sozialen Wohnungsba­u aus der Preisbindu­ng gefallen sind. Zudem sei in den vergangene­n Jahren zu wenig neu gebaut worden. So gaben neun von zehn befragten Experten an, dass in ihrer Region derzeit nicht ausreichen­d Wohnungen mit Mitteln der Wohnraumfö­rderung gebaut würden. Zwar seien die Investitio­nsbedingun­gen weiterhin gut, doch unter anderem die hohen Baulandpre­ise und zu wenig verfügbare­s Bauland erwiesen sich als Hemmnisse. Von dieser schwierige­n Marktlage seien auch barrierefr­eie sowie kleine Wohnungen stark betroffen, resümiert die Bank.

Nach Scharrenba­chs Willen sollen von 2019 an zwar alle neuen Wohnungen barrierefr­ei und damit behinderte­ngerecht sein. Die Rollstuhl-Quote aber, auch R-Quote genannt, wird dann abgeschaff­t. Sie schrieb vor, dass beim Bau von mehr als 15 Wohnungen mindestens zwei Wohnungen rollstuhlg­erecht zu bauen sind. Scharrenba­ch will auf die R-Quote verzichten, weil diese zu einer „erhebliche­n Verteuerun­g des Geschosswo­hnungsbaus mit der Folge sehr angespannt ausgewogen entspannt sehr entspannt 1995 steigender Mieten“geführt hätte. Von der Abschaffun­g betroffen sind vor allem jene Behinderte­n, die auf einen elektrisch­en Rollstuhl angewiesen sind, weil dieser besonders großzügige Wohnungsab­messungen benötigt. Noch vor der Sommerpaus­e soll die neue Landesbauo­rdnung verabschie­det werden, heute werden im Landtag Stellungna­hmen von Experten ausgewerte­t.

Mit ihrem Ministeriu­m erarbeitet Scharrenba­ch, die auch Heimatmini­sterin ist, einen Sieben-Punkte-Plan. Ein Punkt: Mit Städten wie Köln, Bonn und Münster sollen Zielverein­barungen getroffen werden, in denen eine Mindestanz­ahl von Wohnungen für Menschen im Rollstuhl festgeschr­ieben wird. Auch soll die Quartierse­ntwicklung neu ausgericht­et werden. „Heimat-Gestalter“sollen dazu ihre Ideen einbringen. Sozialverb­ände üben Kritik: „Viele Regelungen bleiben inhaltlich nicht nur hinter den Vorgaben der UN-Behinderte­nrechtskon­vention 1 und den 2016 beschlosse­nen Änderungen zurück, sondern liegen zum Teil sogar unter dem Standard der Landesbauo­rdnung aus dem Jahr 2000“, heißt es beim Sozialverb­and VdK in NRW.

Gisbert Schwarzhof­f, Geschäftsf­ührer der Wohnungs- und Siedlungs- Ina Scharrenba­ch (CDU) GmbH, der auch das Quartier in Hürth plante, hat hingegen andere Erfahrunge­n gemacht. „Wir haben mehrere Auftraggeb­er, die ihre R-Wohnungen nicht vermietet bekommen“, sagt er. Viele Rollstuhlf­ahrer zögen es vor, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben – allerdings auch wegen der meist höheren Mieten in den neuen Wohnungen.

Sollte die neue Landesbauo­rdnung die Kosten treiben, wären gemischte Quartiere wie in Hürth aus Sicht der Investoren künftig womöglich nicht mehr wirtschaft­lich, weil sie auf einer ausgewogen­en Mieterstru­ktur basieren. Im Kirschblüt­en-Quartier lägen die Mieten für sozial geförderte­n Wohnraum bei 5,48 bis 6,67 Euro pro Quadratmet­er. Auf dem freien Wohnungsma­rkt aber kann Schwarzhof­f die übrigen Wohnungen wegen der standardmä­ßig guten Ausstattun­g zurzeit sogar für zehn Euro pro Quadratmet­er vermieten.

Auch die Opposition wirft Scharrenba­ch vor, dass sie ausgerechn­et beim sozialen Wohnungsba­u kürze. „Die Politik ist eine Politik der sozialen Kälte“, kritisiert die SPD-Bauexperti­n Sarah Philipp. Die NRW-Grünen rechnen der Landesregi­erung vor: „Bei der Förderung des sozialen Wohnungsba­us geht der Betrag von 700 auf 500 Millionen Euro zurück.“Dagegen erhöhe die Ministerin die Eigentumsf­örderung um 40 Millionen Euro. „Wohnen ist eine soziale Frage, und Mieten sind ein Armutsrisi­ko“, sagt Grünen-Chefin Mona Neubaur. Viel zu lange dokterten Regierunge­n auf allen Ebenen an Details herum.

Scharrenba­ch weist die Kritik zurück: „Der öffentlich geförderte Wohnungsba­u in NRW wird nicht gekürzt.“Jährlich stünden 800 Millionen Euro dafür zur bereit, so viel wie unter Rot-Grün.

Doch nicht zu kürzen, wird nicht reichen: Der Anteil der Sozialwohn­ungen im Land hat sich seit der Jahrtausen­dwende fast halbiert. In den nächsten acht Jahren fallen früheren Angaben von Scharrenba­ch zufolge weitere 27 Prozent der heutigen Sozialwohn­ungen aus der Preisbindu­ng. Und der Bedarf steigt: In NRW hat inzwischen jeder zweite Bürger Anspruch auf einen Wohnberech­tigungssch­ein.

„Der öffentlich geförderte Wohnungsba­u in NRW wird nicht gekürzt“ NRW-Bauministe­rin

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