Rheinische Post Viersen

„Nicht vom Hartz-IV-Gespenst jagen lassen“

Mecklenbur­g-Vorpommern­s Regierungs­chefin über Flüchtling­spolitik im Bund, einen Bamf-Untersuchu­ngsausschu­ss und die Lage der SPD.

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BERLIN Manuela Schwesig ist trotz ihres Wechsels als Ministerpr­äsidentin nach Schwerin vor einem Jahr auch weiterhin regelmäßig in Berlin. Vor allem als Vizechefin der SPD muss sie regelmäßig ins WillyBrand­t-Haus. Dort lädt sie nach diversen Konferenze­n zum Gespräch.

Frau Schwesig, bald endet die 100tägige Schonfrist für die große Koalition. Wie fällt Ihre Bewertung aus?

SCHWESIG Die SPD ist Motor der Koalition und bringt viele wichtige Vorhaben auf den Weg. Dazu zählt das Gute-Kita-Gesetz von Franziska Giffey, mit dessen Unterstütz­ung wir in Mecklenbur­g-Vorpommern die Elternbeit­räge für die Kita in zwei Schritten komplett abschaffen werden. Oder die Brückentei­lzeit von Hubertus Heil, um Menschen aus der Teilzeitfa­lle zu holen und ihnen Vollzeitar­beit zu ermögliche­n. Deshalb wird es Zeit, dass die Union jetzt endlich einlenkt, damit dieses wichtige Gesetz auf den Weg gebracht werden kann.

Welche Rolle spielt es für die Regierung, dass die CSU im Wahlkampf ist?

SCHWESIG Die CSU hat dieselben Reflexe wie beim letzten Mal. Sie glaubt, dass sie durch eine schärfere Flüchtling­sdebatte die AfD bekämpfen kann. Aber das ist bisher auch schiefgega­ngen. Die große Koalition hat mit dem Koalitions­vertrag viel Potenzial, das Leben der Menschen konkret zu verbessern – bei den Kitas, bei der Pflege, mit einem sozialen Arbeitsmar­kt. Es geht um die Alltagsthe­men der Menschen.

Auch Ihre Partei debattiert leidenscha­ftlich über den Familienna­chzug, der sicher nicht den Alltag der Mehrheit bestimmt...

SCHWESIG Die SPD darf keiner Diskussion ausweichen, sie muss sich an den Debatten beteiligen. Aber wir müssen auch die eigenen Themen viel stärker bewerben und konkret umsetzen, um gegen die aufgeheizt­en Angstdebat­ten von CSU und AfD anzukommen.

Das haben Sie schon in der vergangene­n Regierung versucht und wurden bei der Wahl abgestraft. Ist es nicht Zeit für einen Strategiew­echsel?

SCHWESIG In erster Linie kommt es darauf an, gute Politik für die Menschen zu machen. Wenn wir erfolgreic­h sind und die Wirkung bei den Menschen ankommt, wird auch die Zustimmung zur SPD wieder steigen. Das dauert manchmal eine Weile. Aber ich bekomme beispielsw­eise jetzt noch sehr positive Briefe, weil wir in der letzten Regierung den Unterhalts­vorschuss für Alleinerzi­ehende verbessert haben.

Wo sehen Sie Handlungsb­edarf bei der Flüchtling­spolitik?

SCHWESIG Die Bürgerinne­n und Bürger wie auch die Flüchtling­e müssen sich darauf verlassen können, dass Asylverfah­ren, Integratio­n und auch Abschiebun­gen in einem geordneten Verfahren ablaufen. Durch die Vorwürfe gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e ist viel Vertrauen in die Behörden kaputt gegangen. Das muss schnell durch Aufklärung wiederherg­estellt werden.

Halten Sie einen Untersuchu­ngsausschu­ss für das geeignete Gremium dafür?

SCHWESIG Ich bin für schnelle und zügige Aufklärung. Deshalb sehe ich zunächst den Bundesinne­nminister und den Innenaussc­huss des Bundestage­s in der Verantwort­ung. Alle, die dazu etwas sagen können, müssen Rede und Antwort stehen. Ich finde, der Innenaussc­huss sollte sich jetzt nicht selbst zu klein machen. Es geht ja um zwei Dinge: Klären, was war, und dann schauen, dass es bei aktuellen und künftigen Verfahren besser läuft.

Sie würden also einen Untersuchu­ngsausschu­ss ausschließ­en?

SCHWESIG Wenn man zügige Aufklärung will, dann geht das auch im Innenaussc­huss.

Die FDP argumentie­rt, dass die AfD im Innenaussc­huss eine bessere Bühne für die eigene Inszenieru­ng hätte als im Untersuchu­ngsgremium.

SCHWESIG Die Frage, an welchem Ort aufgeklärt wird, sollte jeder unabhängig vom Blick auf die AfD beantworte­n.

Führende Parteilink­e haben sich in dieser Woche hinter die Idee eines solidarisc­hen Grundeinko­mmens von Berlins Bürgermeis­ter Michael Müller gestellt. Sind Sie auch dafür?

SCHWESIG Ich leite unter anderem mit Juso-Chef Kevin Kühnert und Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius unsere Arbeitsgru­ppe, die Antworten der SPD auf den Wandel des Sozialstaa­ts finden soll. Da wird es auch um die Frage gehen, wie wir Lebensrisi­ken von Menschen absichern müssen. Eine angstbefre­ite Debatte darüber ist wichtig. Die SPD sollte sich nicht immer von dem Hartz-IV-Gespenst jagen lassen. Deswegen finde ich den Impuls gut.

Wie soll das aus Ihrer Sicht aussehen?

SCHWESIG Der Sozialstaa­t muss drei Dinge leisten. Die Menschen müssen erstens gegen Lebensrisi­ken wie Krankheit geschützt sein. Zweitens müssen wir sicherstel­len, dass die Menschen, die viel gearbeitet und sich etwas aufgebaut haben, bei Arbeitslos­igkeit nicht so behandelt werden, als hätten sie nie gearbeitet. Und drittens: Menschen, die derzeit keine Perspektiv­e auf dem ersten Arbeitsmar­kt haben, brauchen Teilhabe durch den sozialen Arbeitsmar­kt.

In anderen Ländern haben große Sammlungsb­ewegungen wie „En Marche“viel Erfolg. Fürchten Sie solche Konkurrenz auch hier?

SCHWESIG Ich fürchte mich nicht. Aber die SPD muss sich die Frage stellen, warum etwa „En Marche“in Frankreich den europäisch­en Gedanken viel näher an die Leute bringt, als wir es derzeit können. Das ist unsere Herausford­erung, denn auch wir stehen für ein stabiles und geeintes Europa. Die Frage nach Krieg und Frieden war schon lange nicht mehr so präsent bei den Menschen wie jetzt. Da dürfen wir niemanden mit alleinelas­sen. Ein gemeinsame­s Europa ist unsere Antwort darauf.

Ins Kanzleramt werden Sie das nächste Mal nur einziehen können, wenn Sie eine Ampelkoali­tion eingehen oder Rot-Rot-Grün im Bund kommt. Was wäre Ihnen lieber?

SCHWESIG Im Moment weiß niemand, wie die Bundestags­wahl 2021 ausgeht. Deshalb stehen auch andere Aufgaben im Vordergrun­d. Wir müssen unsere Vorhaben in der Regierung umsetzen und als Partei Antworten auf wichtige Zukunftsfr­agen finden, die über diese Wahlperiod­e hinausgehe­n.

Bleibt es dabei, dass die Parteichef­in das erste Zugriffsre­cht auf die Kanzlerkan­didatur hat?

SCHWESIG Ja. Aber auch dieses Thema steht zurzeit nicht zur Debatte.

Sie werden seit geraumer Zeit als künftige Kanzlerkan­didatin gehandelt. Schmeichel­t Ihnen das, oder stößt das auf inneren Widerstand?

SCHWESIG Ich bin gerne Ministerpr­äsidentin und kann mich in dieser Aufgabe und als stellvertr­etende Parteivors­itzende sehr gut auf Bundeseben­e einbringen. JAN DREBES FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: LAIF Manuela Schwesig (44) in der Staatskanz­lei in Schwerin.

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