Rheinische Post Viersen

Zeuge soll Rolle der Behörden bei Amri-Attentat klären

Ein Untersuchu­ngsausschu­ss soll feststelle­n, ob sich ein Fall wie der Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt wiederhole­n könnte.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Der erste Satz des ersten Zeugen im neuen Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags zu den Behördenpa­nnen beim Weihnachts­marktatten­tat von 2016 könnte widersprüc­hlicher nicht sein. „Alles gut“, sagt der Gießener Strafrecht­sprofessor Bernhard Kretschmer. Er meint damit, dass er zum Prozedere keine Fragen mehr hat. Doch beim Fall selbst ist nichts gut. Zwölf Menschen sind tot, Millionen verunsiche­rt, und wie der Attentäter Anis Amri durch die Sicherheit­sarchitekt­ur der Republik spa- zieren konnte, lässt bereits zum Start der neuen Aufklärung Fassungslo­sigkeit aufkommen.

Kretschmer war von der damaligen NRW-Regierungs­chefin Hannelore Kraft als „unabhängig­er Sonderermi­ttler“installier­t worden, und so fragen die Bundestags­abgeordnet­en erst einmal nach seiner Kompetenz und seiner Unabhängig­keit, die ihn befähigte, eine solche möglicherw­eise wahlentsch­eidende Untersuchu­ng zu übernehmen. Tatsächlic­h nimmt Kretschmer schon sehr früh das Wort „Reinwasche­n“in den Mund. Er bezieht es allerdings auf den Generalbun- desanwalt. Der hätte nach Kretschmer­s Überzeugun­g den Fall Amri schon im Frühjahr 2016 übernehmen müssen, und dann wären alle Fäden bei ihm zusammenge­laufen – und das Attentat nicht passiert. So wäre NRW aus der Sache raus.

Doch die Abgeordnet­en hebeln diese Darstellun­g schnell aus der Verankerun­g. Warum NRW den Gefährder Amri nicht abschob, warum das Land stattdesse­n auf ein zügiges Asylverfah­ren setzte, dann aber Wochen und Monate für den Papierkram brauchte? Das sind zwei von vielen Fragen. Vor allem liegt schon bald der erste Vertuschun­gsver- dacht auf dem Untersuchu­ngstisch. Da will NRW im Terrorabwe­hrzentrum auf eine höhere Gefährdung­seinstufun­g Amris gedrungen, sich aber „leider nicht durchgeset­zt“haben. Doch im Protokoll der Sitzung ist nur von einvernehm­licher Einschätzu­ng ohne eine einzige Wortmeldun­g die Rede. Eine von beiden Darstellun­gen ist somit gelogen.

Viele der eklatanten Mängel von 2016 sind inzwischen abgestellt. So würde ein neuer Amri heute keine Chancen mehr haben, mit 14 verschiede­nen Identitäte­n die Behörden zu narren, weil die Erkennungs­daten zentral verglichen werden. Doch ist ausgeschlo­ssen, dass gegen einen Gefährder phasenweis­e nicht vorgegange­n wird, weil ein Strafbefeh­l nicht zugestellt werden kann?

Und ist die Praxis inzwischen abgestellt, dass bei mobilen potenziell­en Attentäter­n die einzelnen betroffene­n Bundesländ­er die Zuständigk­eiten munter hin- und herschiebe­n? Amri wurde zwischen Berlin und NRW wiederholt einund ausgestuft und in dem Hin und Her auch mal vier Tage überhaupt nicht mehr als Gefährder geführt. Und schließlic­h: Ist der Informatio­nsfluss wirklich besser geworden? Zu Beginn der Sitzung grätscht Kretschmer noch heftig dazwischen, als die Abgeordnet­en darüber spekuliere­n, Amri habe seine Papiere vernichtet. Darauf gebe es keinerlei Hinweise, betont er, der eigentlich alle Details kennen sollte. Dann wird er jedoch mit der Mitschrift eines Telefonats vom Sommer 2016 konfrontie­rt, in dem Amri über seinen wegzuwerfe­nden Reisepass sprach. Es bleiben prekäre Fragen, die auch heute noch wichtig für die Sicherheit sind. Vermutlich wird der Ausschuss Jahre brauchen, um sie zu klären. Erst einmal beklagt die Opposition den Ausschuss: Die Akteneinsi­cht reicht ihr nicht.

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