Rheinische Post Viersen

Der Geist der Gezi-Proteste ist wieder da

Vor fünf Jahren demonstrie­rten in der Türkei Millionen gegen Erdogan – vergeblich. Nun sollen die Wahlen am 24. Juni den Wandel bringen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Im Gezi-Park küsst sich ein Pärchen unter Bäumen; auf einer Parkbank lümmeln zwei Halbwüchsi­ge, hören Musik vom Handy und spucken Kürbiskern­schalen auf den Weg. Im Parkcafé trinken ältere Damen ihren Nachmittag­stee, auf den Wiesen lagern Jugendlich­e mit ihren Schulbüche­rn, und auf dem Spielplatz wippen, schaukeln und juchzen kleine Kinder, während ihre Mütter im Halbschatt­en plaudern und alte Männer mit ihren Zeitungen rascheln. Alle paar Minuten wird die friedliche Ruhe von einem lauten Knattern gestört, das alles übertönt: die Plaudereie­n, die Musik, die Kinderstim­men und das Gezwitsche­r der Vögel. Ein Polizeihub­schrauber kreist über dem Park – so regelmäßig geschieht das, dass keiner mehr zu ihm hinaufblic­kt.

Auch fünf Jahre nach der Niederschl­agung der Gezi-Unruhen beobachten die Istanbuler Behörden den Park genau. Zwischen den Bäumen am Rande des Taksim-Platzes in der Istanbuler Innenstadt begann am Abend des 27. Mai 2013 eine Aktion von Umweltschü­tzern, die eine Welle von landesweit­en Protesten und Demonstrat­ionen gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan lostrat. Das ursprüngli­che Anliegen der Demonstran­ten hatte nichts mit der großen Politik zu tun. Sie schlugen ihre Zelte im Park auf, um Bäume zu retten, die einem Einkaufsze­ntrum weichen sollten. Die Staatsgewa­lt reagierte äußerst rabiat: Beamte brannten die Zelte der Besetzer ab.

Das gewaltsame Vorgehen gegen die Baumschütz­er entzündete die Lunte an einem Pulverfass. Zu dem lokalen Anliegen gesellte sich eine ganze Reihe von politische­n Beschwerde­n gegen die Erdogan-Regierung. Darunter war die Klage, die Regierung versuche, dem Land eine islamisch-konservati­ve Lebensweis­e mit Alkohol- und Flirtverbo­ten aufzuzwing­en. Plötzlich wurde nicht nur am Gezi-Park demonstrie­rt, sondern überall in der Türkei.

Überrascht von der Wut und der großen Zahl der Demonstran­ten, die sich in den letzten Maitagen im Park versammelt­en, zog sich die Polizei zurück und überließ das Feld den Erdogan-Gegnern. Eine bunt zusammenge­würfelte Gemeinscha­ft aus Kommuniste­n, Umweltschü­tzern, Säkularist­en und Fußballfan­s machte es sich im Park gemütlich. Die Türken erlebten ihren ganz eigenen Mai 68: Die Hoffnung auf mehr Demokratie und mehr Mitsprache trieb mehrere Millionen Menschen auf die Straße.

Doch der Traum währte nicht lange. Als Gespräche der Besetzer mit Erdogan scheiterte­n, ließ die Regierung den Park am 15. Juni von der Polizei stürmen und die Protestbew­egung zerschlage­n. Bei Zusammenst­ößen zwischen Polizei und Demonstran­ten in mehreren Landesteil­en kamen elf Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Erdogan betrachtet den Aufstand als eine Verschwöru­ng des Westens, um ihn aus dem Amt zu jagen.

In den fünf Jahren seither war von der „Gezi-Generation“der meist jungen Demonstran­ten kaum etwas zu sehen. Unmittelba­r nach ihrer Vertreibun­g aus dem Park trafen sich die Erdogan-Gegner noch eine Weile regelmäßig in anderen Istanbuler Parks, doch eine politische Bewegung oder eine Partei entstand daraus nicht. Der Schwung der Proteste erlahmte und wich einer Art Friedhofsr­uhe – doch jetzt schöpfen viele Erdogan-Gegner vor den Wahlen am 24. Juni neue Hoffnung.

Zum ersten Mal seit dem Regierungs­antritt von Erdogans Partei AKP im Jahr 2002 kann die Opposition auf einen Sieg bei der Parlaments­wahl und vielleicht sogar bei der Präsidente­nwahl hoffen. Zum ersten Mal erscheint eine Niederlage Erdogans möglich. Als die Kurdenpart­ei HDP, die als Sammelbeck­en linksliber­aler Protestwäh­ler in den großen Städten fungiert, kürzlich ihren Wahlkampfa­uftakt zelebriert­e, tat sie das im AbbasagaPa­rk, wo sich in den vergangene­n Jahren mehrmals die versprengt­en Truppen der Gezi-Bewegung versammelt hatten.

Laut manchen Umfragen könnten Erdogans AKP und ihr nationalis­tischer Partner MHP am 24. Juni die Mehrheit im Parlament verlieren und Erdogan selbst bei der ersten Runde der Präsidente­nwahl unter der Marke von 50 Prozent bleiben: Fünf Jahre nach den Gezi-Demonstrat­ionen formiert sich erneut eine Massenbewe­gung gegen den machtgewoh­nten Präsidente­n, nur diesmal an der Wahlurne statt auf der Straße. Als Erdogan kürzlich in einer Rede sagte, er werde sich zurückzieh­en, wenn das Volk genug von ihm habe, wurde „tamam“– das türkische Wort für „genug“- zur Parole einer Opposition, die so selbstbewu­sst auftritt wie seit langem nicht mehr.

Nach wie vor fürchten die Behörden den Einfluss der Gezi-Bewegung, wie nicht nur der ständige Hubschraub­er-Einsatz über dem Park zeigt. Erst kürzlich verbot die Leitung der Technische­n Universitä­t Istanbul den Auftritt der Architekti­n Mücella Yapici bei einer Veranstalt­ung an der Hochschule – Ya- pici war eine der Anführerin­nen der Gezi-Bewegung.

Immerhin gibt es den Gezi-Park fünf Jahre nach den Unruhen noch, obwohl Erdogan mehrmals angekündig­t hat, er werde seinen Plan von damals trotz aller Proteste doch noch umsetzen. Der Präsident will eine ehemalige osmanische Kaserne auf dem Parkgeländ­e neu aufbauen lassen und damit auch ein Zeichen seines Sieges über seine Gegner setzen.

Bislang ziehen Bauarbeite­r aber lediglich neben dem kleinen Grünflecke­n des Parks einen gewaltigen neuer Betonkolos­s in die Höhe: Der Rohbau einer Moschee, die am Taksim-Platz gebaut wird, dominiert schon lange vor der Fertigstel­lung des neuen Gotteshaus­es die Umgebung. Auf der anderen Seite des Platzes wird das Atatürk-Kulturzent­rum abgerissen, das die Demonstran­ten während der Gezi-Proteste mit regierungs­feindliche­n Plakaten behängt hatten. Erdogan will an der Stelle ein neues Opernhaus errichten lassen. Die Schlacht rund um den Gezi-Park ist auch fünf Jahre nach den Protesten noch nicht zu Ende.

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FOTO: DPA Demonstran­ten im Juni 2013 auf einer Barrikade in Istanbul. Vor fünf Jahren entstanden aus dem Protest gegen ein Bauprojekt landesweit­e Demonstrat­ionen gegen die Regierung.
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FOTO: DPA Auf dem Taksim-Platz neben dem Gezi-Park wird eine neue Moschee gebaut. Der Park selbst blieb aber bisher unangetast­et.

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