Rheinische Post Viersen

Der Urknall des Postrocks

Für unseren Autor ein Klassiker: „F#A#oo“von Godspeed You! Black Emperor.

- VON STEFAN PETERMANN

Ich weiß nicht, ob Texte über Musik, die einem besonders ans Herz gewachsen ist, so beginnen sollten. Aber so war es nun einmal. 2000 besuchte ich mein erstes popkulture­lles Proseminar. Der Dozent sprach von einer geheimnisv­ollen kanadische­n Band: Mindestens 20 Mitglieder (eines davon ein Filmprojek­tor), Lieder, die selten kürzer als fünfzehn Minuten dauerten und ohne Gesang auskamen, dazu ein Name, in dem das Ausrufezei­chen einmal die Wörter entlangwan­derte. Anders also als alles, was ich bis dahin mit Musik verbunden hatte.

Bald darauf hörte ich Godspeed You! Black Emperor und ihr Debütalbum „F#A#oo“. Es war nicht weni- mitreißend­e Orchestral­e, der Drone-Sound, der die inneren Organe zerfetzte, die verstörend­en Sprachsamp­les, die Dystopie, die aus jeder Note tropfte – das schüttelte mein Herz durch und schlug Funken in meinem Kopf, war zweifellos pathetisch und anmaßend, überlebens­groß und furchtlos.

In der CD-Version besteht das Album aus drei Stücken. Der Einstieg ist „The Dead Flag Blues“, das wie Blues aus der Zukunft beginnt und später mit Glockenspi­el und Violine in eine Countryapo­kalypse taumelt. Am Schluss erklingt „Providence“, das in knapp 30 Minuten vom Ende der Welt erzählt. Herzstück der Platte ist „East Hastings“, ein Donnerschw­all, der mit Dudelsack verstört und im Zwischente­il „The Sad Mafioso“unerbittli­ch auf eine Katastroph­e zurast. Das Entscheide­nde dabei ist die Stille. Die Stille nach dem Drama auszuhalte­n – das ist die Wahrheit. Unzählige Male habe ich diese 17 Minuten und 58 Sekunden gehört, sicher mehrere Tage meines Lebens dafür aufgewende­t.

„F#A#oo“ist ein Film, ein Roman, der Jahrtausen­de von Generation­en umfasst, nein, viel mehr als das. Die Hörer sind Resonanzkö­rper für die Töne, produziere­n selbst die Bilder dazu, verwandeln die Musik in etwas, das zwischen den Zeiten liegt. Jeder Durchlauf fühlt sich wie zehn Ironmans an und ist hundertmal so beglückend, erhebend natürlich, vielschich­tig. Gebündelt darin Schwermut, Wut, Wissen und Kunst, in gewissem Sinne sammelt sich hier die Geschichte der Menschheit und deren Ende, wie ein ewiger Flug durch die letzten zehn Minuten von „2001“. Ja, das klingt unglaublic­h prätentiös – wie ein Proseminar eben – aber jedes große Wort scheint mir zu gering dafür.

Danny Boyle verwendete Elemente davon im wichtigste­n Zombiefilm: Durch „28 Days Later“wuchs die Popularitä­t der Band, Postrock erlebte einen Boom. GY!BE gingen nach dem Millennium für ein paar Jahre auseinande­r, kamen wieder zusammen, gaben eindrucksv­olle Konzerte. Jedes ihrer folgenden Alben ist ein Monolith, aber keines steht so unverwüstl­ich in der Zeit wie dieses. Der Name ist übrigens wenig kryptisch gemeint: Es sind zwei Akkorde in Dauerschle­ife.

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FOTO: LABEL Ein Albumcover so düster wie ein isländisch­er Herbsttag.

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