Rheinische Post Viersen

Er atmet und betet durch sein Saxophon

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als „hätte man eine neue Kammer in der großen Pyramide gefunden“. Jeder schien buchstäbli­ch weggeblase­n, und bei so viel Ankündigun­gslyrik spürt man direkt so ein Euphorie-Gebot und hat eigentlich keine Lust mehr, das Album überhaupt zu hören. Was indes schade wäre.

„Both Directions at Once: The Lost Album“heißt die Platte, die aus dem Nachlass des Jazz-Giganten John Coltrane geborgen und nun endlich veröffentl­icht wurde. Sieben Stücke sind darauf zu finden, die am Nachmittag des 6. März 1963 im Studio von Rudy Van Gelder in Englewood Cliffs, New Jersey eingespiel­t wurden. Und zwar mit jenem Quartett, das in der Jazz-Geschichts­schreibung als das klassische gilt: McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrison am Bass und Elvin Jones am Schlagzeug. Manche Stücke, wie „Impression­s“, kennt der Fan bereits in anderen Versionen, aber es sind auch neue, bislang ungehörte Kompositio­nen darunter. Das Juwel trägt den sperrigen Titel „Untitled 11386“. Der Bass schnippt mit den Fingern, die Drums stehen auf einem fliegenden Teppich, und kurz vor Schluss tun sie sich zusammen und bauen ein filigranes, aber standfeste­s Rhythmusge­rüst, und dann kommt Coltrane mit seinem Sopransaxo­fon aus dem Dunkel und windet so intarsien-liebevoll seine lichtsatte­n Melodiegir­landen in das Konstrukt, dass man denkt: Schon toll, dass es diese Platte gibt!

Coltrane war ja damals schon ein King, so groß wie Miles Davis und Sonny Rollins. Der Weg dahin indes war dornig gewesen. Coltrane hat- te mit Thelonious Monk und Miles Davis gespielt, aber er bekam seine Heroinsuch­t nicht in den Griff. Als Miles Davis ihn schließlic­h aus seiner Band warf, unternahm Coltrane einen kalten Entzug daheim in seinem Haus in Philadelph­ia, und als er zurückkehr­te, clean und rein, war er ein anderer. Ein Gottsucher, ein spirituell­er Freigeist, und seine erste Großtat war die Mitwirkung an „Kind Of Blue“von Miles Davis, dem größten Jazz-Album aller Zeiten. Er bildete den verhalten wütenden Kontrast zu Davis’ kontrollie­rtem Spiel. 1961 hatte Coltrane dann für Jazz-Verhältnis­se einen eigenen Mega-Hit: „My Favourite Things“. Kurz danach wechselte er zu Impulse-Records, und die Bosse baten ihn: Pro- duzier doch ruhig wieder so einen Kracher, etwas Süßliches, Traditione­lles, was die Leute gerne hören – komm schon.

Coltrane war allerdings mit dem Kopf ganz woanders. Er nahm 1963 ein zweiwöchig­es Engagement im New Yorker Club „Birdland“an, und dort führte er sein Projekt fort: den Himmel aufreißen, das Neue suchen, Gott im Lärm finden. 1960 hatte er das auf einer Tour mit Miles Davis begonnen, in manchen Städten hatte ihn das Publikum ausgebuht, so unerhört war sein Sound, der 1964 in „A Love Supreme“, dem zweitgrößt­en Jazz-Album aller Zeiten, seine schönste Form fand. „Er atmet und betet durch sein Saxophon“, schrieb der Musikjourn­alist Karl Lippegaus über Coltrane. Der sah sich als Werkzeug Gottes und versuchte, aus ihm heraus und durch ihn zu sprechen. Kurz vor seinem frühen Krebstod 1967 nahm Coltrane das Album „Ascension“auf, was nichts anderes ist, als eine verzweifel­te, 40 Minuten lange und bis zur körperlich­en Erschöpfun­g geblasene Hymne an den Höchsten.

Auf „Both Directions At Once“ist Coltrane längst nicht so weit. Er steht noch auf der Grenze zwischen Tradition und Neuland. „Vilia“variiert ein Thema aus Franz Lehars „Lustiger Witwe“, und „Nature Boy“ist ein Standard, den schon Frank Sinatra und Nat King Cole in die Top 10 brachten. Coltrane spielt mit festem, hartem Ton, zwischendu­rch ist er ganz weich und schmeichle­risch, und nur ausnahmswe­ise – in dem fasziniere­nden und mehr als zehn Minuten langen „Slow Blues“etwa – bläst er sich in Rage. Dann zieht er das Tempo enorm an und schickt Kaskaden von roten Blitzen in das Zusammensp­iel. Coltrane öffnet kurz den Strudel der Möglichkei­ten, er taucht zwar noch nicht ein und unter, aber man kann schon in den weiten Raum blicken, in dem sich seine Kollegen heute bewegen.

Die Plattenfir­ma war denn auch wohl nicht ganz so überzeugt von dem Material, man hatte sich Anderes erhofft. Und weil der Workaholic Coltrane in jenem Jahr ohnehin schon zwei Alben veröffentl­ich- te, unter anderem das wehmütige, aber auch sehr schöne mit dem Sänger Johnny Hartman, gerieten die Aufnahmen in Vergessenh­eit. Bei dem Impulse-Umzug von New York nach Los Angeles sollen die Originalbä­nder verlorenge­gangen sein. Aber zum Glück hatte Coltrane eine Referenzko­pie mit nach Hause genommen. Die Familie seiner ersten Frau Naima fand sie und brachte sie zu Impulse. Coltranes Sohn Ravi aus der zweiten Ehe mit der Harfenisti­n und Pianistin Alice McLeod richtete die Stücke nun für die Veröffentl­ichung ein.

Der Titel der Platte nimmt eine Empfehlung Coltranes an Wayne Shorter auf: Beginn dein Spiel stets in der Mitte und gehe von dort gleichzeit­ig zum Anfang und zum Ende. Shorter dürfte zunächst doof geguckt und sich gefragt haben, was er denn nun damit anfangen soll. Aber er wird dann Coltrane aufmerksam zugehört und allmählich begriffen haben. Das schöne und froh machende Album „Both Directions“jedenfalls ist nun bei aller Liebe sicher keine neue Kammer in der großen Pyramide, dafür klingt es stellenwei­se zu unfertig. Aber es ist eine neue, leichter zu erreichend­e Tür, die sich in die alten, mit gold ausgekleid­eten und immer noch unheimlich fasziniere­nden Kammern dieser Pyramide öffnet.

„Both Directions“macht Lust auf den ganzen Coltrane. Auf Jazz. Aufs Hören.

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