In Deutschland herrschen Selbstzweifel und Überfremdungsangst
mehr Teilhabe im öffentlichen Leben und das Recht auf Abtreibung, Bürgerinitiativen sorgten sich um die Umwelt, und die Angst vor einem Atomkrieg führte in den 80er Jahren zu den größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik je gesehen hatte.
Im Jahr 1990 kam unverhofft die deutsche Einheit hinzu, der Optimismus der Menschen kletterte auf einen bis heute unerreichten Rekordwert.„Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt“, skandierte Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper (SPD) am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Und er traf den Nerv der Menschen.
Doch zugleich veränderte die Wiedervereinigung entscheidend das Bild der alten Bundesrepublik. Das Land bestand plötzlich aus zwei unterschiedlichen Mentalitäten. Und als Folge des Zusammenbruchs des Kommunismus und des Krieges in Jugoslawien kamen Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten ins Land. Zudem wurde klar, dass viele der einstigen Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei, gleichberechtigte Bürger des größeren Deutschlands werden wollten. Die Metropolen an Rhein, Main, Elbe und Spree bestanden plötzlich aus Menschen, die aus über 100 Ländern stammten.
Als dann seit September 2015 weitere Hunderttausende Flüchtlinge infolge der Kriege im Nahen Osten über die offenen Grenzen einströmten, war es um das einheitliche Bild Deutschlands endgültig geschehen. Nach einem hoffnungsvollen Beginn, Stichwort Willkommenskultur, versank Deutschland trotz hervorragender wirtschaftlicher Daten in Selbstzweifel und Überfremdungsangst. Was ist noch deutsch, was macht uns aus, was hält uns zusammen, fragten auch viele Gutmeinende. Die rechtspopulistische AfD schaffte es in den Bundestag, und die Zustimmung zur Demokratie sank auf unter 70 Prozent.
Ist also der Glaube an gemeinsame Werte, Grundrechte oder die Teilhabe an demokratischen Entscheidungen nicht mehr das, was die knapp 83 Millionen Menschen zusammenhält, die hier leben? Die Antwort ist schwierig, denn viele fühlen sich fremd im eigenen Land, sehen Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, aber auch Polizei und Justiz auf dem Rückzug. Soziale Medien tun das Übrige dazu, dass Menschen sich in Parallelgesellschaften aufhalten, sich nicht mehr für das Gemeinwohl interessieren.
Ein neuer Aufbruch ist nötig – wie der von 1968. Und die Chancen sind nicht einmal schlecht. Zwar sind demokratische Neigungen im Osten und auch bei vielen Migranten nicht so ausgeprägt wie in Westdeutschland, doch insgesamt ist die Akzeptanz der durch das Grundgesetz geprägten demokratischen Ordnung intakt. Die Menschen, die jetzt hier wohnen, müssen einander verstehen, das Trennende und Einende benennen und die jeweilige andere Seite nicht überfordern, was Integration oder den Rückzug in die eigene Kultur betrifft.
Der Schlüssel zum neuen Aufbruch sind Bildung, bürgerliches Engagement, Bereitschaft, die Befindlichkeiten des anderen zu akzeptieren. Dann sind die Kräfte, die uns, die knapp 83 Millionen Menschen, zusammenhalten, stärker als die Fliehkräfte. Martin Kessler
Jahrhundertflut