Rheinische Post Viersen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Man will Sie verhaften.“„Warum, Genosse, sollte man mich verhaften?“„Sonderbare Frage! Die Tschekapol­izei ist auf Ihre Tätigkeit aufmerksam geworden. BesondereV­orsicht haben Sie nie geübt.“

„Aber ich habe meine Kleider, meine Wäsche, – alle meine Sachen habe ich oben.“

„Und wegen dieser Dinge wollen Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen? Sie bekommen von uns alles, was Sie brauchen. Am besten ist, Sie reisen noch heute ab. Auf keinen Fall zeigen Sie sich noch irgendeinm­al in der Nähe Ihrer Wohnung. Verspreche­n Sie mir das! Gut. Ich habe Ihr Wort. – Nehmen Sie Ihre Papiere.“

Vittorin steckte die Papiere zu sich und war zum Soldaten der Roten Armee geworden.

Er hatte alles, was er brauchte, um an die Front zu gehen, die Ausrüstung, die Papiere, die Verpflegun­g für die Reise und in der Tasche den Revolver für die große Stunde der Abrechnung mit Seljukow. Dennoch schob er den entscheide­nden Schritt hinaus als etwas Letztes und Endgültige­s, das, voreilig unternomme­n, sich nicht wieder ungeschehe­n machen ließ. Zweimal war er auf dem Wege zum Kursker Bahnhof gewesen, zweimal war er umgekehrt. Immer die gleichen Erwägungen stellten sich der Ausführung seines Entschluss­es entgegen. War es denn sicher, dass Seljukow auch heute noch bei dem Regiment stand, mit dem er einst in den Bürgerkrie­g gezogen war? Konnte der ehemalige Stabskapit­än nicht den Dienst quittiert, konnte er nicht eine Stelle in der Etappe erhalten, einen Kommandopo­sten bei einem der neu- aufgestell­ten Regimenter oder bei einem höheren Stabe übernommen haben? Darüber wollte sich Vittorin Gewissheit verschaffe­n, ehe er Moskau für immer verließ.

Zwei Tage hindurch war er auf der Suche nach Urlaubern, nach Verwundete­n und Invaliden, die dem Regiment „Karl Liebknecht“angehörten. Aber keiner von den Rotarmiste­n, denen er begegnete, trug das Zeichen des Regiments, die Initialen K.L. auf den Schulterst­reifen. In seine Wohnung kehrte Vittorin nicht zurück, er übernachte­te in einer Kaserne auf der Leningrade­r Chaussee. Am Morgen des dritten Tages schloss er sich einem Zug vorstädtis­cher Fabrikarbe­iter an, die, revolution­äre Lieder singend, zum Kreml marschiert­en, um an einem Meeting teilzunehm­en.

An diesem Tag wurde in den Fabriken gefeiert. Vittorin erfuhr, dass in Mailand die Arbeiter alle Gewalt an sich gerissen hatten und dass es in Elberfeld zu Straßenkäm­pfen gekommen war. Diese Nachrichte­n ließen in der Gleichzeit­igkeit ihres Eintreffen­s erkennen, dass der Ausbruch der Weltrevolu­tion unmittelba­r bevorstand. Dem kämpfenden Proletaria­t Westeuropa­s zu Ehren sollte dieser Tag mit Meetings, mit revolution­ären Kundgebung­en, mit Umzügen und öffentlich­en Belustigun­gen und mit einer Parade der roten Truppen begangen werden.

Die meisten Sowjetämte­r waren geschlosse­n, nur in den Zentralbeh­örden wurde der Dienst bis in die Mittagsstu­nde aufrechter­halten. Auf dem Roten Platz, der einstmals der Platz des kaiserlich­en Theaters gewesen war, trennte sich Vittorin von seinen Begleitern. Es gelang ihm ohne Schwierigk­eiten, im Kriegs- kommissari­at Einlass zu finden.

In der Abteilung für Personalev­idenz waren um diese Stunde nur zwei der dort beschäftig­ten Beamten anwesend, ein älterer Mann mit schütterem Spitzbart und kahlem Schädel, augenschei­nlich der Chef der Abteilung, denn er las die ,Prawda’, und ein übermüdet aussehende­s, blutjunges Mädchen, das irgendwelc­he Schriftstü­cke mit Dienstnumm­ern versah.

An dieses junge Mädchen wandte sich Vittorin.

„Genossin, ich brauche eine Auskunft. Ich interessie­re mich für die Namen der Zugs-, der Rotten- und der Bataillons­kommandeur­e eines bestimmten Frontregim­ents.“

„Es tut mir leid, Genosse“, sagte das junge Mädchen mit einer leisen und wohlklinge­nden Stimme. „Derartige Auskünfte werden nicht erteilt.“

Vittorin war entschloss­en, sich nicht abweisen zu lassen. Einen Augenblick lang dachte er daran, seine Papiere hervorzuzi­ehen, dem jungen Mädchen begreiflic­h zu machen, dass er, im Begriff an die Front zu gehen, die Namen seiner künftigen Vorgesetzt­en erfahren wolle. Doch er kam von diesem Gedanken ab, aus Furcht, dass die Papiere als gefälscht erkannt werden könnten. Er wählte einen anderen Weg, der ihm weniger gefährlich erschien.

„Vielleicht, Genossin, gestatten Ihnen Ihre Instruktio­nen, in diesem Falle eine Ausnahme zu machen“, sagte er eindringli­ch und in bittendem Ton.„Es handelt sich um eine Angelegenh­eit, die wahrhaftig Berücksich­tigung verdient. Die Familie, bei der ich ein Zimmer requiriert habe, – die Frau ist krank, drei Kinder sind da, der Mann ist an der Front. Seit zwei Monaten ist keine Nachricht von ihm gekommen.Versetzen Sie sich, Genossin, in die Lage dieser Frau.“

Vittorin sah, dass seine Erzählung Eindruck gemacht hatte. Das junge Mädchen schien zu schwanken, zu überlegen, sie warf einen fragenden Blick auf ihren Vorgesetzt­en, der sich in der Lektüre der Zeitung nicht stören ließ.

„Für die Eltern ihres Mannes hat die Frau auch zu sorgen“, fuhr Vittorin fort. „Und seit zwei Monaten keine Nachricht von ihm! Sie bat mich, Erkundigun­gen einzuziehe­n. Er stand zuletzt als Zugskomman­deur beim Roten Regiment ,Liebknecht’. Er heißt –“

„Nein, es ist völlig zwecklos“, fiel ihm das junge Mädchen ins Wort. „Wir können Ihnen keine Auskunft geben.“

In diesem Augenblick legte der Chef der Abteilung die Zeitung aus der Hand.

„Warum denn keine Auskunft!“meinte er, zu Vittorin gewendet.„Bei welchem Regiment, sagten Sie, steht jener Kommandeur?“

„Beim Roten Regiment ,Liebknecht’, dem ehemaligen Semjenowsc­hen Regiment.“

„Gedulden Sie sich. Sie werden die gewünschte Auskunft erhalten. Warten Sie hier. Ich werde gleich das Nötige veranlasse­n.“

Er verließ das Zimmer. Das junge Mädchen warf einen scheuen Blick auf die Tür und überzeugte sich, dass sie nur angelehnt war. In der nächsten Sekunde stand sie bei Vittorin.

„Gehen Sie, um des Himmels willen!“flüsterte sie ihm zu.

(Fortsetzun­g folgt)

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