Rheinische Post Viersen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Du musst nicht immer meine Hände anschauen“, fährt sie fort. „Ich weiß, sie sind nicht hübsch. Du, schau, der Pelz, den die Dame dort trägt! Chinchilla.“

Vittorin hat jetzt einen Entschluss gefasst. Er sieht ihr ins Gesicht.

„Und wenn ich dich jetzt frage, Franzi: Willst du mit mir zurück? Willst du mit mir das Leben von neuem beginnen? Nun! Gib Antwort!“

Die Frage kommt ihr unerwartet, sie weiß in ihrer Verwirrung nicht, was sie sagen soll.

„Wenn du mich fragst! Aber es fällt dir ja gar nicht ein, mich das zu fragen.“

„Doch! Ich will’s wissen. In zwei Tagen ist meine Aufgabe beendet. In zwei Tagen bin ich frei. Ich werde arbeiten, mir eine Existenz schaffen. So steht die Sache. Und nun gib Antwort!“

Zurück in die Armseligke­it des Alltags! Zurück an die Schreibmas­chine! Morgens um sieben auf dem Schnellsie­der den Frühstücks­kaffee kochen. Ein Kabinett zu zweit mit Ausblick auf den Lichthof. – Ist denn das möglich? Ist das denkbar? Er ist so ahnungslos.

Dennoch vermeidet schroffe „Nein“.

„Muss ich mich gleich entscheide­n, Georg?“

„Gewiss. Das musst du. Warten kann ich nicht.“

„Schön wär’s ja“, sagt sie. „Aber es wird nicht geh’n.“„Warum sollt’s nicht geh’n?“„Wie du dir das vorstellst! Was würden meine Freunde sagen, wenn ich ihnen einfach davonginge? Und außerdem –“„Du willst also nicht?“„Nein, Georg. Es geht wirklich nicht. Sei mir nicht böse!“ sie das

Jetzt sind sie einander plötzlich fremd geworden. Keiner spricht ein Wort. Vittorin blickt auf die Uhr, er hat nicht mehr viel Zeit. Franzi blickt zu Mario hinüber und weiß nicht recht, wie sie sich verabschie­den soll. Sie haben einander nichts mehr zu sagen.

Da kommt der kleine Belgier. Er bleibt in der Türe stehen und zögert, weil er Fräulein Fifi in Gesellscha­ft eines Herrn sieht, den er nicht kennt, und dieser Herr passt gar nicht recht zu ihr.

„Du entschuldi­gst mich, Georg“, sagt Franzi eilig. „Ich werde abgeholt. Wird man sich wiedersehe­n?“Vittorin ist aufgestand­en. „Ich glaube nicht. In vierzig Minuten geht mein Zug.“

„Wirklich?“meint sie verwundert. „In vierzig Minuten. Du bist doch der gleiche geblieben, immer musst du mit dem nächsten Zug fort. – Leb’ wohl, Georg.“

Sie geht mit dem kleinen Belgier hinüber in den Tanzsaal. In der offenen Tür winkt sie noch einmal flüchtig zurück, dann schmiegt sie sich in den Arm ihres Tänzers, andere Paare schieben sich dazwischen, noch sieht Vittorin das malvenfarb­ige Band an Ihrem Kleidaussc­hnitt und den Schimmer ihres Haares, und dann ist sie verschwund­en.

Vittorin ist stehengebl­ieben, er will sie noch einmal sehen. Er wartet. Vier Minuten. Sechs Minuten. Jetzt muss er fort. Viele Paare sind im Rhythmus des Tanzes an der Türe vorübergek­ommen, fremde Gesichter haben gleichgült­ig an ihm vorbeigese­hen, vielleicht ist auch das ihre darunter gewesen, er weiß es nicht. Seljukow Von Innsbruck an warVittori­n nur mit drei Personen im Abteil. Die alte Frau mit dem Kopftuch fuhr nach Bischofsho­fen, um dort eine Stelle als Gasthauskö­chin anzutreten. Der dicke, vergnügte, kahlköpfig­e Herr war Vertreter einer Weingroßha­ndlung, in seinem Musterkoff­er führte er Proben aller Südtiroler Weinsorten mit sich. Gleich nach Innsbruck bat er die Gasthauskö­chin um ein Stück Brot. Er schnitt es in vier gleiche Teile, dann holte er einen Trinkbeche­r aus dem Koffer und ließ die Mitreisend­en von seinem Terlaner, seinem Traminer und seinem St. Magdalener kosten. Der junge Mensch im Sportanzug war Ingenieur in einem Elektrizit­ätswerk. Er erzählte, dass er im nächsten Jahre nach Südamerika gehen werde. Brasilien, das sei das Land der Zukunft.

Der Weinreisen­de nickte zustimmend mit dem Kopf. In Südamerika, sagte er, sei noch Geld zu machen. Er habe einen Verwandten in Lima gehabt, einen Großonkel mütterlich­erseits, und die Geldsendun­gen diesesVerw­andten, dem er ewig dankbar sein werde, hätten ihm das Studium ermöglicht. Fünf Klassen Realschule. Immerhin eine Grundlage. Eine gewisse Bildung sei Voraussetz­ung für seinen Beruf, man müsse mit der Kundschaft zu sprechen wissen, man müsse gleich herausbeko­mmen, was den Mann interessie­rt, was er gern hört, – das Geschäft mache sich dann von selbst. Seit fünf Jahren sei er bei der Weinbranch­e. Früher habe er eine Schreibmas­chinenfabr­ik vertreten, aber ,da solle einen Gott behüten’.

„Fahren Sie geschäftli­ch nach Wien?“wandte er sich an Vittorin.

Vittorin gab nicht sogleich Antwort. Er blickte vor sich hin und sah ein Zimmer mit roten Fenstervor­hängen, und in dem Zimmer stand Seljukow, auf dem Schreibtis­ch lag ein französisc­her Roman mit einer nackten Dame als Titelbild. – Ein Schuss! Seljukow hat geschossen, die Kugel ist in die Türfüllung gedrungen, das Holz splittert. Zum zweiten Schuss kommt er nicht mehr, jetzt ist die Reihe anVittorin.Wenn aber eine Frau im Zimmer ist, – was dann? Seljukow hat eine Frau bei sich, das ist ganz sicher, hinter demWandsch­irm hat er sie versteckt. Sie wird schreien, sie wird um Hilfe rufen. Mag sie’s tun, mag sie schreien, der Polizei telefonier­en, es ist gleichgült­ig, was nachher geschieht. Dort auf dem Boden liegt Seljukow, er regt sich nicht, im Fallen hat er den Wandschirm mit sich gerissen. –

„Ich fahre in einer rein persönlich­en Angelegenh­eit nach Wien“, sagte Vittorin.

In Salzburg war längerer Aufenthalt. Ein kleiner, auffallend blasser Herr ging fröstelnd und mit hochgezoge­nen Schultern auf dem Bahnsteig auf und nieder. Seine eleganten, schmalen Lackschuhe standen in einem sonderbare­n Gegensatz zu seinem unmodische­n Hut, zu dem schlecht gearbeitet­en Winterrock, zu den viel zu weiten Hosen, die nur Spuren einer Bügelfalte erkennen ließen. Im Gehen sprach er mit sich selbst. Vittorin grüßte, der blasse Herr sah flüchtig nach ihm hin, zog den Hut und setzte seinen Spaziergan­g fort. Vittorin trat auf ihn zu. „Herr Doktor Bamberger, nicht wahr? Sie kennen mich nicht?“Der Herr blieb stehen. „Doch, ich glaube. Das heißt, – mein Gedächtnis ist nicht das allerbeste. Wollen Sie mir nicht helfen?“

„Ich heiße Georg Vittorin.“

(Fortsetzun­g folgt)

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