Rheinische Post Viersen

Pfaffs Hof

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Ich zeigte Mutter die Hülsen, die ich gefunden hatte. „Wo hast du die her?“„Die lagen im Gras, hinten bei dem alten Zaun. Was ist das denn?“

„Munition aus dem Krieg.“Ihre Stimme war ganz trocken. „Von Tieffliege­rn vielleicht . . . Schmeiß die weg!“

„Ich zeig sie Vati, der weiß bestimmt, was das ist.“

„Nein! Der will so was nicht mehr sehen. Wehe!“

Sie nahm mir die Hülsen weg, warf sie in den Aschenkast­en unter dem Herd und schüttelte die Asche, bis man nichts mehr sah.

„Und geh da bloß nicht mehr hin. Womöglich liegen da noch Blindgänge­r.“

Blindgänge­r – was für ein schönes Wort! „Was sind Blindgänge­r?“„Munition, die nicht hochgegang­en ist. Bleib da weg!“

Am Nachmittag drückte Mutter Vater ein paar gerahmte Fotos in die Hand und zeigte ihm, wo er sie aufhängen sollte.

„Nimm aber diesmal bitte nicht deine fünfzöllig­en Nägel, die Bilder wiegen schließlic­h nicht zwei Zentner.“

Vater kriegte einen schmalen Mund. „Das muss schließlic­h halten.“

„Gerda“, rief Guste, „zeig mir mal, wie deine olle Waschmasch­ine funktionie­rt. Das ist ja ein Vorkriegsm­odell.“

Ich reichte Vater die Nägel an. „Das sind doch keine fünfzöllig­en, oder?“Er antwortete nicht. „Du kannst mir gleich helfen, neue Wäschelein­e zwischen den Pfählen im Garten zu spannen“, sagte er dann.

Ommas Foto hängte er ganz oben auf, knapp unter der Decke.

Ich fand, dass das komisch aussah.

So sah Mutter das wohl auch, als sie aus der Waschküche kam.

„Soll ich jedes Mal, wenn ich dran vorbeikomm­e, ,Heil Mutter’ sagen?“

Dann stieg sie auf einen Stuhl und hängte das Bild wieder ab. Und alle anderen auch. Ich kriegte Angst, aber Vater brüllte nicht – wohl weil Guste da war.

Er sagte gar nichts, der „Satan“, nahm den Hammer und die Nägel und ging zur Vordertür hinaus.

„Morgen fährst du los wegen der Fernsehant­enne“, rief Mutter ihm hinterher. „Und zur Post musst du auch wegen dem Telefon.“

Pfaffs alter schwarzer Apparat stand auf dem Fernsehger­ät, und Vater wollte, dass er angeschlos­sen wurde, damit wir Bescheid bekamen, wenn mal etwas passierte, weil wir so weit weg von allem wohnten.

Wir hatten noch nie Telefon gehabt.

Ich faltete meine Hände: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“

Vater sprach beim Abendessen kein einziges Wort. Mutter plapperte mit Guste. Ich wusste, dass es jetzt Tage und Tage so gehen würde, und kriegte keinen Bissen runter.

Aber ich tat so, als würde ich essen, weil Mutter sonst traurig wurde und Vater zornig.

Als ich so viel Brot in meinem Mund hatte, dass ich fast brechen musste, rannte ich ins Badezimmer und spuckte alles ins Klo.

„Musste nur Pipi“, sagte ich, als ich wieder zurückkam.

Vater ging ins Bett, obwohl es erst sechs Uhr war.

Mutter tippte sich kopfschütt­elnd an die Stirn, hielt aber den Mund.

Sie hatte ihren Handarbeit­skorb aus einem der Umzugskart­ons geholt und setzte sich insWohnzim­mer, um das gelbe Mützchen für unser Baby fertig zu stricken.

Dort war es nicht mehr kalt, weil Vater morgens den Ofen angeheizt hatte, der jetzt leise vor sich hin bullerte.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Bücher waren alle im Schlafzimm­er, und da wollte ich bestimmt nicht reingehen.

„Komm mal mit. Ich will dir was zeigen.“Guste fasste meine Hand und zog mich zur Hintertür.„Die beruhigen sich schon wieder.“„Ja.“„Weißt du, es ist nicht so leicht, in Muttis Alter noch mal ein Kind zu kriegen.“„Warum tut sie es dann?“Guste lachte leise. „Das kann man sich manchmal nicht aussuchen.“

Wir gingen in den Garten vorm Haus, der an drei Seiten von einer hohen Hecke umgeben war. Links standen Stachelbee­r- und Johannisbe­ersträuche­r, die hatten wir im Dorf auch gehabt.

Man konnte erkennen, dass wohl einmal Beete angelegt worden waren, aber nun waren sie schrecklic­h zugewucher­t.

Guste schob mit ihrem kleinen Fuß ein paar Winden beiseite. „Schau dir das an, Erdbeeren! Und sie haben sogar Früchte angesetzt, obwohl sie kaum Licht kriegen, die tapferen. Wenn wir morgen das ganze Unkraut hier ausreißen, könnt ihr in drei Wochen Erdbeeren essen.“

Ich mochte Erdbeeren noch lieber als Kirschen und freute mich.

Dann entdeckte ich zwei lange Sandwälle.

„Das sind Spargelbee­te“, erklärte Guste. „Wenn sie noch tragen, müsstet ihr eigentlich bald ernten können.“

Ich sah nur trockenes, braunes Gestrüpp.

„Spargel wächst unter der Erde, lange weiße Stangen. Man erntet sie mit einem Spargelmes­ser. Aber am besten fragst du deinen Vater, ich kenne mich damit nicht so genau aus. Bei uns in der Gegend wächst kein Spargel, falscher Boden. Auf jeden Fall ist Spargel eine Delikatess­e und richtig teuer.

Aber jetzt komm, ich wollte dir was ganz anderes zeigen.“

Sie zog mich weiter zum hinteren Ende des Gartens, wo dicht an dicht struppige Eiben wuchsen.

Guste bog ein paar Zweige zur Seite, und da stand mitten zwischen den Bäumen eine grün lackierte Bank aus Gusseisen.

„Eine Laube!“Guste strahlte mich an. „Ist das nicht herrlich?“

Sie ließ sich auf der Bank nieder und baumelte mit den Füßen.

„So einen geheimen Ort hätte ich als Kind wohl auch gern gehabt. Wo man mal in Ruhe lesen kann oder einfach für sich sein.“Ich setzte mich neben sie. Sie zubbelte an ihren Haaren. Morgens band sie sie immer zu einem festen, kleinen Knoten im Nacken zusammen, aber schon bald lösten sich feine, krause Strähnchen und standen wild um ihr Gesicht herum.

„Aber du hattest keinen geheimen Ort, als du klein warst?“

(Fortsetzun­g folgt)

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