In Venedig geht es dieses Jahr um Stars wie Ryan Gosling – aber das ist nicht alles.
Das Filmfestival in Venedig hat seinen sehr gut besetzen Wettbewerb begonnen. Streit gibt es über die Frauenquote und Netflix.
Das Filmfest in Venedig hat gestern begonnen, Ryan Gosling spielte im Eröffnungsfilm „First Man“den Weltraum-Pionier Neil Armstrong, aber am Lido reden sie sich über zwei ganz andere Themen die Köpfe heiß: zum einen über die Welle der von Netflix produzierten Kinofilme und zum anderen über die auffallend und elend schlechte Quote von Wettbewerbsfilmen, die eine Regisseurin haben.
In Cannes hatten die Verantwortlichen den Streamingdienst noch ausgeschlossen, der Venedig-Chef Alberto Barbera sieht das nun aber gar nicht ein. Der Kritik italienischer Kinobetreiber setzt er selbstbewusst sein cineastisches Credo entgegen: Ihm gehe es allein um die Qualität. Und die, das muss man zugeben, versprechen die sechs Netflix-Filme durchaus.
Dazu gehört unter anderem „The Ballad Of Buster Scruggs“, der neue Western der beiden Coen-Brüder, die bereits vier Mal den Oscar gewonnen haben. Und außerdem – mit reichlich Spannung erwartet – „22 July“, Paul Greengrass’ Film über den Attentäter Anders Breivik und das Massaker auf der norwegischen Insel Utoya.
Weniger überzeugend klingen die Argumente in Bezug auf diese Zahl: 21 Produktionen konkurrieren um den Goldenen Löwen, der am 8. September verliehen wird, und nur eine davon stammt von einer Frau;„The Nightingale“von Jennifer Kent. Im Vorfeld adressierten verschiedene Verbände deshalb einen Offenen Brief an Alberto Barbera und fragten, ob er womöglich Vorurteile hege. Der„Hollywood Reporter“unterstellte gar „Machismo am Lido“.
Immerhin 21 Prozent der Einreichungen, so hat es das Festival aufgeschlüsselt, stammten von Frauen. Ob alle diese Produktionen wirklich nichts taugen?Warum blieb nur eine Arbeit übrig? Jurypräsident Guillermo del Toro („Shape Of Water“) sprach sich gestern schuldbewusst für eine absolute Chancengleichheit von Männern und Frauen im Filmgeschäft aus: „Das Ziel muss klar sein: Bis zum Jahr 2020 muss das Verhältnis bei 50 zu 50 liegen“, forderte der Mexikaner. Allein Barbera blieb stur. Er ließ verlauten, er werde zurücktreten, sobald er einen Film in die Auswahl aufnehme, nur weil er von einer Frau gedreht worden sei.
An weiblichen Stars mangelt es in Venedig indes nicht, sie alle arbeiten jedoch vor der Kamera. Lady Gaga etwa ist in dem Musical „A Star Is Born“zu sehen, dem Regie-Debüt des Schauspielers Bradley Cooper, für das die Pop-Sängerin auch einige Songs schrieb. Natalie Portman wird zu erleben sein, Dakota John- son, ebenso Emma Stone und Rachel Weisz.
Das Star-Aufgebot dürfte das des finanziell weitaus besser ausgestatteten Konkurrenz-Festivals in Cannes in diesem Jahr übertreffen. Hollywood hat wegen der günstigen zeitlichen Nähe zu den Oscars nämlich damit begonnen, aussichtsreiche Produktionen hier zu präsentieren.
Der gut aufgenommene Eröffnungsfilm gehört dazu: In „First Man“geht es um den ersten Schritt, den je ein Mensch auf den Mond setzte. Das ist kein patriotischer Kracher, wie man befürchten könnte. Der 33-jährige Regisseur Damien Chazelle arbeitete dafür erneut mit Ryan Gosling zusammen, und beide gehen die Sache leise und subtil an. Wie die Astronauten beim Start wild hin- und hergeschleudert werden, wie jede Schraube durch den Druck fast herauszufliegen droht. Auch politische und gesellschaftliche Kritik klingt an: Warum muss so viel Geld für den Wettlauf zum Mond ausgegeben werden, wenn es doch in den Vereinigten Staaten Armut und soziale Missstände gibt, gerade für Afroamerikaner? Chazelle und Gosling eröffneten übrigens schon vor zwei Jahren die Festspiele auf dem Lido: Das Musical „La La Land“wurde später mit sechs Oscars ausgezeichnet.
Einer der glamourösen Schauplätze des Festivals ist sicherlich das noble Grand Hotel des Bains, das Thomas Mann mit seiner Novelle „Tod in Venedig“weltberühmt gemacht hat. Acht Jahre ist es geschlossen gewesen, nun wurde es für die 75. Filmfest-Ausgabe wiedereröffnet. Vor dieser Kulisse wird in den nächsten Tagen auch ein deutscher Oscar-Preisträger einen Film zeigen, dem man am Lido bereits gute Chancen einräumt.„Werk ohne Autor“heißt die neue Produktion von Florian Henckel von Donnersmarck („Das Leben der Anderen“). Er erzählt darin drei Stunden lang von einem Maler, von der Nazizeit und der frühen DDR; und wie man hört, soll die Geschichte unausgesprochen an die Biografie Gerhard Richters angelehnt sein.
Weitere Höhepunkte folgen Schlag auf Schlag: Auch der Brite Mike Leigh geht zurück in die Vergangenheit. Sein „Peterloo“thema-
tisiert das Massaker 1819 in Manchester, bei dem eine friedliche Protestkundgebung tödlich niedergeschlagen wurde. Julian Schnabel schaut in „At Eternity’s Gate“mit Willem Dafoe und Mads Mikkelsen auf Vincent van Goghs Zeit in Arles. Und Luca Guadagnino („Call Me by Your Name“) zeigt „Suspiria“, seine Zusammenarbeit mit Tilda Swinton.
Ein Clou ist auch die Premiere von „The Other Side of the Wind“. Regielegende Orson Welles (1915 bis 1985) drehte dasWerk in den 1970er Jahren, konnte es aber nie beenden. 2017 kaufte dann der Streamingdienst Netflix die Rechte und vollendete den Film. Er sollte eigentlich bereits bei den Filmfestspielen in Cannes aufgeführt werden, aber da wollte man ihn nicht.
Wonach die Jury denn den Sieger aussuchen werde, wurde ihr Präsident Guillermo del Toro kurz vor Festivalbeginn auch gefragt. Die Antwort: „Ich finde, die Filme müssen mit dem beurteilt werden, was sie auf der Leinwand zeigen.“Seine Aufgabe sei auf jeden Fall eine sehr ernste: „Ich hoffe wirklich, dass ich überrascht werde und etwas entdecke.“