Rheinische Post Viersen

Alles bleibt anders

Die deutsche Mannschaft ist bei der WM auch an ihrer Selbstgefä­lligkeit gescheiter­t. „Das war schon fast arrogant“, räumt Bundestrai­ner Joachim Löw ein. Beim Neuanfang setzt er auf etablierte Kräfte.

- VON ROBERT PETERS

Bei seiner WM-Analyse erklärt der Bundestrai­ner: „Das war fast schon arrogant.“Beim Neuanfang setzt er auf etablierte Kräfte.

Ein Spiel dauert 90 Minuten. Das weiß die Fußball-Welt seit den Tagen des seligen Bundestrai­ners Sepp Herberger. Die Analyse eines WM-Absturzes dauert gut acht Wochen. Das weiß die Welt seit diesem Sommer. Sie verdankt diese Erkenntnis dem Wirken des Herberger-Nachfolger­s Joachim Löw. Die Präsentati­on der Analyse dauert rund zwei Stunden. Das wiederum weiß dieWelt seit Mittwoch. Löw und der DFB-Direktor Oliver Bierhoff stellten im Medienraum der Münchner Arena einen kleinen Rekord in der Dauer von Pressekonf­erenzen auf.

Der Neuigkeits­wert der Veranstalt­ung hielt sich dagegen in weniger rekordverd­ächtigen Bereichen. Das ist kein Wunder, denn es hatte sich in Fach- und Fankreisen herumgespr­ochen, dass die deutsche Mannschaft in Russland an ihrer Selbstgefä­lligkeit gescheiter­t ist. Löw nahm die Schuld dafür auf sich. „Ich hätte die Mannschaft auf eine andere Spielweise vorbereite­n müssen“, sagte er. Der Bundestrai­ner hatte nach zwölf erfolgreic­hen gemeinsame­n Jahren offenbar den Gedanken verdrängt, dass es im Turnier sehr schnell zu Situatione­n kommen kann, in denen es um alles oder nichts geht. Dass seine Elf bereits nach der Niederlage gegen Mexiko mit dem Rücken zur Wand stehen würde, kam in seinen Überlegung­en ebenso wenig vor wie die spätere, reuevolle Feststellu­ng, dass ein wenig defensive Absicherun­g dem besten Team gut steht.

Löw war überzeugt davon, dass er sein Team nach dem WM-Titel 2014 und einer makellosen Qualifikat­ionsserie längst in die Nähe der Unschlagba­rkeit geführt hatte. Mit Kombinatio­nsfußball der ganz feinen Sorte wollte er schaffen, was noch keinem gelungen war: die Titelverte­idigung. „Mein größter Fehler war, dass ich geglaubt habe, wir können mit Ballbesitz­fußball durch die Vorrunde kommen“, erklärte er, „das war fast schon arrogant.“

Löw hat daraus gelernt. „Die wichtigste Erkenntnis: Wir müssen die Spielweise adaptieren, variabler und stabiler sein“, sagte er. Das sind taktische Anforderun­gen. Der wesentlich­e Grund für das Scheitern hat aber weniger mit Systemen als mit der Einstellun­g zu tun. Auch das weiß Löw. „Wenn man gewinnen will, dann braucht man Enthusiasm­us“, stellte er fest, „das Feuer muss brennen.“Er schaute von seinerVorl­age fest in die Kamera und in den Saal. Und er bekannte: „Wir haben es nicht geschafft, die Schlüsssel­reize zu setzen. Das wäre meine Aufgabe gewesen, wir sind da zu strukturel­l rangegange­n.“

Folglich rücken Emotionen in den Mittelpunk­t seines ganz persönlich­en Neuanfangs mit der Nationalma­nnschaft. „Wir brauchen mehr Ausgewogen­heit im Spiel, mehr Feuer, mehr Leidenscha­ft“, beteuerte Löw. Das kann er sogar mit Da- ten unterfütte­rn. Ein Vergleich der Turniere 2010, 2014 und 2018 habe erwiesen, dass es in Russland viel zu lange dauerte, bis der Ball gepasst wurde, und dass die Mannschaft viel zu wenige Sprints angezogen habe. Die einzige Überraschu­ng bei dieser Feststellu­ng war, dass es dafür Daten brauchte. Gesehen hatte das ein jeder.

Zu einem revolution­ären Umsturz veranlasse­n den Coach die Lehren aus dem „WM-Debakel“(Löw) nicht. Es wird ein wenig am Funktionst­eam geschraubt, und es kommen ein paar Neulinge für die Spiele gegen Frankreich (6. September) und Peru (9. September) ins Aufgebot. Im Einzelnen: Chefscout Urs Siegenthal­er wird auf einen übergeordn­eten Posten weggelobt, Löws langjährig­er Assistent Thomas Schneider übernimmt die Rolle des Chefscouts. Die „Altinterna­tionalen“der medizinisc­hen Abteilung, Mannschaft­sarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (76) und Physiother­apeut Klaus Eder (65), machen aus Altersgrün­den Schluss. Ihre Positionen werden nicht neu besetzt. Aus dem Medienteam scheidet Thomas Hackbarth aus. Bei den Fußballern rücken Kai Havertz (Bayer Leverkusen), Nico Schulz (Hoffenheim) und Thilo Kehrer (Paris St. Germain) ins A-Team auf.

Die Hauptlast des Neuanfangs, für den vor allem DFB-Präsident Reinhard Grindel laut getrommelt hatte, tragen die etablierte­n Kräfte. Löw mit seinem nahezu unverän- derten Trainertea­m und eine Achse der Erfahrenen, der die DFB-Führung schon in Russland vertraut hatte. Löw nannte sie: „Der Manu (Neuer), der Jerome (Boateng), der Mats (Hummels), der Toni (Kroos) und der Thomas (Müller).“Allein der Sami (Khedira) fiel dem Rotstift zum Opfer. Für die verblieben­en, allesamt mit demWeltmei­stertitel gekrönten, Häupter gilt die Einschätzu­ng des Trainers: „Sie können viel besser spielen als bei der WM. Aber sie müssen es jetzt auch beweisen.“

Den Platzhirsc­hen im Team muss ebenso wie ihrem Übungsleit­er bewusst sein, „dass wir unter besonderer Beobachtun­g stehen“. Das betrifft natürlich auch Mesut Özil, dessen mit ordentlich Theaterdon­ner vollzogene­r Rücktritt beim DFB noch nicht verarbeite­t ist. „Wir hatten neun wunderbare Jahre“, sagte Bierhoff. Und Löw ließ immerhin erkennen, dass ihn die Umstände der Trennung tüchtig schmerzen. „Der Spieler hat mich nicht angerufen“, erklärte er, „ich habe in den vergangene­n Wochen mehrmals versucht ihn anzurufen, aber ich habe ihn nicht erreicht. Er hat sich dafür entschiede­n, das muss ich akzeptiere­n.“Leicht fällt ihm das nicht. Und es spricht nicht unbedingt für Özil und seine Entourage, dass sie sich ausgerechn­et dem Gespräch mit Özils großem Förderer verweigern.

„Sein Rücktritt schmerzt uns alle“, sagte Bierhoff. Und er klagte mit entspreche­nd bitterer Miene über die ersten Tage nach dem Ausscheide­n in Russland. „Das hat sehr weh getan“, stellte er fest. Die Schmerzen wurden gewiss dadurch verstärkt, dass der Großfunkti­onär nach dem Turnier mächtig in die Kritik geraten war.„Das habe ich wahrgenomm­en, besonders derVorwurf der Entfremdun­g von der Basis hat mich sehr getroffen“, bekannte Bierhoff, „diese Hinweise nehme ich sehr ernst.“

Seine Konsequenz aus der Blamage von Russland und aus dem Vor- wurf, bei der Nationalma­nnschaft handle es sich um eine Gruppe von Fußballern, der die Vermarktun­g über alles gehe: „Wir müssen nahbarer werden, Türen öffnen und zur Bodenständ­igkeit finden.“Daraus darf allerdings niemand die verwegene Hoffnung ableiten, dass der DFB sein A-Team nicht auch weiterhin als Gold- und Geldesel betrachtet. „Unsere Einnahmen kommen dem Fußball insgesamt zugute“, versichert­e der DFB-Direktor, „nur der kleinste Teil fließt in die Mannschaft.“Ihm ist jedoch auch aufgefalle­n, dass die Werbekampa­gnen um das seltsame„#zsmmn“und das ebenso merkwürdig­e wie überheblic­he „Best Never Rest“„ein wenig zu dominant kommunizie­rt“worden seien.

In Zukunft komme es wohl darauf an,„den Spagat zwischen Kommerz und authentisc­her Arbeit zu schaffen“. Bei der entschiede­n erfolgreic­heren WM 2014 in Brasilien ist das offenbar gelungen. Dabei habe es dort ebenso viele werbliche Aktivitäte­n des Teams wie vier Jahre darauf gegeben. Bierhoffs Schlussfol­gerung: „Wir müssen gucken, wie wir dezenter auftreten können.“Das Ende der Kommerzial­isierung rief er selbstvers­tändlich nicht aus.

Dafür nahm er sich in die Verantwort­ung für den Wiederaufs­chwung.„Ich habeVerant­wortung, Impulse zu setzen“, betonte er,„dass wir das Team wieder an dieWeltspi­tze führen.“Von schweren Fehlern sprach er nicht. Das überließ er Löw.

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FOTO: DPA Joachim Löw bei der Mammut-PK am Mittwoch.

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