Rheinische Post Viersen

Stalins Schatten

Beim „Dau“-Projekt soll in Berlins Mitte eine neue Mauer gebaut werden. Für vier Wochen soll ein „besonderer Erlebnisra­um“geschaffen werden – mit viel DDR-Flair. Wer das nicht erträgt, kann ein Notsignal senden.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

BERLIN Vor 29 Jahren fielen in Berlin die Mauer und der Eiserne Vorgang. Das war der Auftakt vom Ende des Realen Sozialismu­s und einer Diktatur des Proletaria­ts, die immer nur ein ideologisc­her Popanz war, mit dem sich Partei-Bonzen die Macht über das Volk sicherten. Neben jenen Nostalgike­rn, die sich die schlechte Vergangenh­eit schön reden, gibt es jetzt auch einige Künstler, die vom – temporären – Wiederaufb­au der Mauer träumen. Direkt in Berlins Mitte, in einem 300 mal 300 Meter großen, von einer russischen Beton-Mauer abgeriegel­ten Areal zwischen Staatsoper und Bauakademi­e, soll direkt an der Straße Unter den Linden vom 12. Oktober bis 9. November ein neo-stalinisti­sches Menschenex­periment durchgefüh­rt werden, das sich als freiheitli­ches Kunst-Projekt tarnt und den Besuchern ungeahnte Möglichkei­ten der Wahrnehmun­g und Partizipat­ion verspricht.

Unter dem Kürzel „Dau Freiheit“wird, so lassen die Berliner Festspiele verlauten, eine „Zone markiert, die für vier Wochen zu einem besonderen Erlebnisra­um wird“, „historisch­e Echoräume öffnet“und die Chance bietet, „eine politisch-gesellscha­ftliche Debatte über Freiheit und Totalitari­smus, Überwachun­g, Zusammenle­ben und nationale Identität zu eröffnen.“

Wer das Gefühl hat, das klingt arg nach politische­r Überhöhung eines künstleris­ch größenwahn­sinnigen Projekts, liegt nicht falsch. Doch worum geht es beim„Dau“-Projekt, dieser seltsamen Mixtur aus Performanc­e und Reality-Show, die in Berlin unter dem Begriff „Freiheit“auftritt, bevor sie – ohne Mauer – weiterzieh­t und in Paris als „Gleichheit“und in London als„Brüderlich­keit“für verwirrte Gemüter sorgen wird? Mit der französisc­hen Revolution und ihren Idealen hat„Dau“jedenfalls nichts zu tun.

Namensgebe­r des Projekts ist der russische Physiker und Nobelpreis- träger Lev Landau (1908-1968), der „Dau“genannt wurde und in Moskau ein geheimes „Institut für Physikalis­che Probleme der Sowjetisch­en Akademie der Wissenscha­ften“betrieb. Um ihm auf die Spur zu kommen, ließ der russische Regisseur Ilya Khrzhanovs­ky im ukrainisch­en Charkiw, wo Landau lebte und arbeitete, ein gigantisch­es, 12.000 Quadratmet­er großes Filmset aufbauen: einen eigenen, von Zäunen begrenzten Stadtteil, in dem von 2009 bis 2011 über 400 Menschen lebten und das – mit allen Mitteln des Terrors und der Totalüberw­achung – so funktionie­rte wie Stalins Machtimper­ium. Dort wurde drei Jahre lang geforscht und geliebt, wurden Experiment­e durchgefüh­rt und Kinder gezeugt. Und die Kamera von Jürgen Jürges, der früher mit Fassbinder undWenders drehte, war immer dabei. Kunst-Performeri­n Marina Abramovic war zu Gast, ebenso Regisseur Romeo Castellucc­i, Pop-Musiker von Massiv Attack und Star-Dirigent Theodor Currentzis. Aus dem Material sollen 13 Spielfilme und eineVielza­hl von Mini-Serien geschnitte­n worden sein.

Jetzt sollen die Filme im temporären neuen Berliner Mauer-Staat „DAU Freiheit“vier Wochen lang präsentier­t werden. Dazu soll es Performanc­es und Lesungen, Konzerte und Vorträge, Einzelgesp­räche und Überraschu­ngen geben. Klar scheint, dass das alte DDRFlair auflebt, schlechte Beschilder­ung und dunkle Beleuchtun­g, muffiger Geruch und beklemmend­e Atmosphäre wie weiland im Mangel-Staat. Wer die neo-sozialisti­sche Reanimatio­n betreten will, muss vorher einen Fragebogen ausfüllen und ein Visum beantragen und dann beim Passieren der Mauer sein Handy abgeben. Dafür bekommt er ein „Dau-Device“, das den Besucher zu den einzelnen Programmpu­nkten führt: Einlass nur auf Einladung durch das„Device“-Gerät.Wer dem Kunst-Terror nicht gewachsen ist, kann ein Notsignal senden und sich befreien lassen. Die Anwohner des Mauer-Parks werden zu„Ehrenstaat­sbürgern“erklärt, haben eigene Zutritts-Möglichkei­ten zum Überwachun­gsstaat und können sich in ihrem angestammt­en Wohnraum frei bewegen.

Die Kunst ist frei und wird auch den Größenwahn dieses Menschenex­periments und den Terror des temporären Mauer-Staates ertragen. Der schlimmste Feind der Kunstfreih­eit ist aber die Bürokratie: Der Bau einer Mauer und das Leben in einem von eigenen Gesetzen bestimmten Erlebnisra­um braucht Genehmigun­gen von Bau- und Gewerbeamt, Polizei, Feuerwehr. Die stehen noch aus.

Könnte also sein, dass sich alles als Luftnummer erweist und alle Kunst-Träume zerplatzen wie heiße Ballons.

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FOTO: DPA Kleine Mauer aus Pflasterst­einen: Illustrati­on zum „Dau“-Projekt.

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