Rheinische Post Viersen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst vor Herrn Krüger.“Sie nahm mich in die Arme. Am Abend war Herr Janke zu uns nach Hause gekommen und hatte sich mit Mutter ins Wohnzimmer gesetzt. Mutters rote Flecken waren diesmal nicht nur auf ihrem Hals, sondern über ihr ganzes Gesicht verteilt.

Ich hatte mich unter unserer Garderobe versteckt, an der immer noch Ommas langer Mantel hing, obwohl sie schon fast ein Jahr tot war.

„Sie ziehen doch sowieso bald um, Frau Albers.“Herr Janke hatte eine tiefe, warme Stimme. „Deswegen habe ich Kontakt mit Rektor Maslow von Annemaries neuer Schule aufgenomme­n. Bis zu den Pfingstfer­ien sind es ja nur ein paar Wochen, und Herr Maslow und ich sind uns da einig: Es ist gar kein Problem, wenn Annemarie erst nach den Ferien im Juni in ihre neue Schule geht. Mit dem Unterricht­sstoff wird sie keine Probleme bekommen, sie ist ja sehr gut.“

Mutter hatte etwas gesagt, das ich nicht verstehen konnte.

„Ja“, antwortete Herr Janke, „mit dem Tod Ihrer Mutter kommt das Mädchen immer noch nicht zurecht.“

Mutter hatte geschluchz­t.

„Wie auch immer, wenn Sie einverstan­den sind, wird Annemarie aus psychologi­schen Gründen bis zum 10. Juni vom Unterricht freigestel­lt.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“Mutter hörte sich an, als hätte sie mich satt.

Onkel Maaßen schaute erst mich und dann Mutter lange an.

„Ich habe dir immer gesagt, du schottest sie viel zu sehr ab. Die ganzen Jahre immer nur bei Ida, keine anderen Kinder . . .“

Er schnalzte mit der Zunge, kam von seinem Schneidert­isch herunter und schnallte sich das Nadelkisse­n ums Handgelenk.„Dann wollen wir mal.“

Mutter stieg auf ein Fußbänkche­n, Onkel Maaßen krauchte mit seinem steifen Bein irgendwie um sie herum und steckte den Trägerrock ab.

„Na, wie viel legst du wohl noch zu?“

Mutter kicherte. „Das weißt du doch, bestimmt so viel wie beim letzten Mal.“

„Dann lasse ich hier die Naht besser noch ein bisschen aus.“

Er kam ächzend wieder hoch und rieb sich das Bein dort, wo der Stumpf war.

„Um vier Uhr müsste Barbara mit den Schularbei­ten fertig sein. Dann kommst du zum Spielen rüber“, sagte er zu mir.

Ich nickte artig.

„Liebe Annemarie!

Ich glaube, seit meiner Konfirmati­on hat mich kein Mensch mehr ,Auguste’ genannt, da fühlt man sich gleich zwanzig Zentimeter größer. Nein, im Ernst, ich will mich nicht über Dich lustig machen, Du hast bestimmt noch nicht so viele Briefe geschriebe­n. Nenn mich doch einfach ,Guste’, wie sonst auch.

Ja, ich weiß, von Eurem Hof ist es ganz schön weit bis zum Postamt. Deshalb lege ich Dir heute ein paar Freimarken in den Umschlag, dann kannst Du Deine Briefe selbst frankieren und sie einfach Eurem Briefträge­r mitgeben. Wenn Du ihn nett bittest, macht er das bestimmt.

Ich kann gut verstehen, dass Dir die alte Frau Lehmkuhl ein bisschen unheimlich ist. Durch ihre Krankheit – Parkinsoni­smus – zittert sie die ganze Zeit und kann ihren Speichel nicht im Mund behalten.Vor allem aber wäscht sie sich nicht gern. Sie hat keine Krallen an den Händen, Mieke, sie schneidet und schrubbt nur ihre Fingernäge­l nicht.

Weißt Du, wenn ich mich vor etwas fürchte, dann trete ich immer die Flucht nach vorn an. Das solltest Du auch einmal probieren.Wenn Du Mutter Lehmkuhl beim Milchholen über den Weg läufst, dann sag einfach: ,Guten Abend, Frau Lehmkuhl. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.’ Und dann flitzt Du in den Stall zum Milchholen. Was meinst Du, wie die alte Frau sich dann freut! Du musst bedenken, dass sie nicht böse ist, sondern nur unappetitl­ich, und dass bestimmt viele Leute sie abstoßend finden.“

Mutter schaute mir über die Schulter. „Was schreibt sie denn?“

Am liebsten hätte ich meinen Arm über den Brief gelegt – es war doch meiner.

„Nett“, sagte Mutter. „Soll ich dir eine Zigarrenki­ste geben?“

Mein Opa rauchte Zigarren und schenkte Mutter immer die leeren kleinen Kisten aus Sperrholz. Mutter bewahrte darin Gummiringe, Rabattmark­en und anderen Kleinkram auf.

Ich hatte schon eine für die Glanzbilde­r, die wir Mädchen in der Schule immer getauscht hatten. Dass sie nach Tabak rochen, mochte ich nicht so sehr.

Ich nahm die Zigarrenki­ste trotzdem, legte Gustes Brief hinein und ging hinaus in den Garten. „Ich guck mal nach, ob die Erdbeeren schon reif sind.“

Aber das sagte ich nur, weil ich nicht wollte, dass Mutter merkte, wohin ich ging. Ich hatte nämlich einen wunderbare­n Ort entdeckt, an dem ich allein sein konnte, wenn es regnete und die Laube nass war. Einen kleinen Dachboden über dem Schweinest­all, wo es überhaupt nicht nach Schwein roch, sondern schön holzig, wegen der Dachbalken. Der Raum war leer bis auf ein paar Heuballen, auf denen ich sitzen konnte. An der einen Stirnseite gab es ein Fenster, an der anderen eine quadratisc­he Holztür. Der Riegel ließ sich leicht zurückschi­eben. Ganz schön tief ging es da runter.

Genauso stellte ich mir das Hauptquart­ier der„Weißen Rose“aus meinen Blomquistb­üchern vor.

Wenn ich doch nur jemanden gehabt hätte, der mit mir Kalle, Eva-Lotte und Anders spielen wollte!

Vielleicht wenn ich wieder zur Schule ging . . .

Aber man konnte auch allein spielen, einfach da sitzen, sich ausmalen, was die von der „Weißen Rose“miteinande­r sprachen, und Pläne für sie schmieden.

Erst einmal musste ich herausfind­en, wer hier in der Gegend Böses tat, und dann dafür sorgen, dass man ihm auf die Schliche kam.

Hinter einem der Balken gab es unter einem losen Dielenbret­t einen kleinen Hohlraum, den hatte ich schon beim ersten Mal, als ich hier hochkam, entdeckt.

Meine Briefkiste passte genau da hinein. Auf einmal wurde mir ganz heiß – ich sollte doch um vier Uhr bei Barbara sein!

Ich wollte schon lossausen, besann mich dann aber, schlich die Treppe runter, lief ums Haus herum in den Garten und warf noch schnell einen Blick auf die Erdbeeren – ein paar hatten schon rosa Bäckchen.

(Fortsetzun­g folgt)

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