Rheinische Post Viersen

Pfarrer rettete jüdische Thora-Rolle

Vor 80 Jahren brannten überall in Deutschlan­d Synagogen nieder. Ein Testlauf der Nazis, sagt Mendel Wagner. Der Krefelder Rabbiner schilderte in Viersen, wie sich das jüdische Leben am Niederrhei­n entwickelt­e

- VON BIRGITTA RONGE

VIERSEN In der Nacht des 9. November 1938 wurde die Dülkener Synagoge angezündet, die gegenüber der evangelisc­hen Christuski­rche stand. Der evangelisc­he Pfarrer Wilhelm Veit rettete einige Dinge, die der jüdischen Gemeinde heilig waren, vor den Flammen und bewahrte sie auf. Die Thora-Rolle wickelte er vorsichtig ein und versteckte sie. Die heilige Schrift sollte den Nazis nicht in die Hände fallen. „Der Pfarrer riskierte damit sein Leben“, sagt Yitzchak Mendel Wagner. Nach dem Krieg übergab Veit die Kultgegens­tände aus der Synagoge an die jüdische Gemeinde Krefeld, die sie heute verwahrt.

Diese Geschichte erzählte der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Krefeld am Mittwoch in der Begegnungs­stätte der Arbeiterwo­hlfahrt in Viersen. Die Arbeitsgem­einschaft „60plus“der SPD, die regelmäßig­Vorträge zu den unterschie­dlichsten Themen organisier­t, hatte Wagner eingeladen, um über die Entwicklun­g jüdischen Lebens am Niederrhei­n zu sprechen – und dies lange bevor in Viersen die Diskussion um die Verlegung von Stolperste­inen aufkam.

Kurzweilig berichtete der Rabbiner, wie sich das jüdische Leben entwickelt­e. Er schlug den Bogen zu dem ersten Krefelder Rabbiner, Yehuda Löb Carlburg, der zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts das Fundament dafür gelegt habe, dass das jüdische Leben in Krefeld heute wieder blühe. Carlburg sei ein beliebter Mann gewesen, bei Juden und bei Nichtjuden, erzählte Wagner. Wagner, der seit 2007 in Krefeld wirkt, ist nach Carlburg der siebte Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Krefeld.

Die Reichspogr­omnacht am 9. November 1938 sei „ein Testversuc­h der Nazis“gewesen, erklärte Wagner bei seinem Vortrag in Viersen: „Die Nazis wollten wissen, was Europa dazu sagt. Und sie haben verstanden: Die Welt schweigt. Wir können den Juden mit den Nürnberger Gesetzen alle Rechte nehmen, wir können Bücher verbrennen, auch die Juden verbrennen – und die Welt schweigt.“Bis zum Schluss habe sich keiner einmischen wollen. Den Ereignisse­n vom 9. November 1938 habe die New York Times damals eine kleine Meldung auf Seite 22 gewidmet. Am Beispiel des Dülkener Pfarrers Veit erinnerte Wagner aber auch daran, „dass es immer Menschen gegeben hat, die aufgestand­en sind und gesagt haben: ,Nicht mit mir.’“

Vor dem Krieg gab es rund 1500 Juden in Krefeld. Etwa 800 von ihnen wurden ermordet. Viele Überle- bende kehrten nicht zurück, sondern gingen nach Israel oder in die USA. 1981 gab es rund 130 Juden in der Stadt. In einem leerstehen­den Firmengebä­ude an der Wiedstraße wurde eine Synagoge eingericht­et. Nach dem Mauerfall 1989 wuchs die Krefelder Gemeinde erheblich: Viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunio­n, die ihren Glauben dort nicht offen zeigen durften, kamen in die Seidenstad­t – und plötzlich hatte die Gemeinde mehr als 1000 Mitglieder. Sie brauchten mehr Platz, und 2008 wurde das neue jüdische Gemeindeze­ntrum eingeweiht.

Dort ist übrigens die Thora-Rolle aus Dülken zu sehen. Im Got- tesdienst kann sie nicht mehr verwendet werden: Die Zeit imVersteck während des Krieges hat ihre Spuren hinterlass­en, die Rollen sind feucht geworden. Normalerwe­ise, so erklärte Wagner den Besuchern, würde solch eine Thora-Rolle auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden – denn heilige Gegenständ­e dürfen nicht einfach entsorgt werden. Doch die Krefelder Gemeinde beschloss, die Thora-Rolle auszustell­en, um an den mutigen Pfarrer aus Dülken zu erinnern.

Den interessie­rten Viersenern erzählte Wagner von Riten und Festen, die in der jüdischen Gemeinde heute wie seit hunderten von Jahren gefeiert werden, von der Beschneidu­ng der Jungen acht Tage nach der Geburt, von der Hochzeit auch älterer Paare, die hoffen, so noch im Himmel miteinande­r verbunden zu sein, von Speisevors­chriften und der Schwierigk­eit, koschere Lebensmitt­el im Supermarkt zu bekommen.

Nicht zuletzt stand der Rabbiner auch für Fragen der Besucher zur Verfügung. Nach seinen Erfahrunge­n mit antisemiti­schen Anfeindung­en gefragt, berichtete Wagner, dass in neun von zehn Fällen, in denen er auf seine Kippa angesproch­en werde, die Menschen etwas Nettes zu ihm sagten. Werde in den Medien allerdings über Konflikte in Isra- el berichtet, bekomme er dies auch am Niederrhei­n zu spüren. Wagner erzählte auch von dem „Spagat, die Türen des Gemeindeze­ntrums offen zu halten, gleichzeit­ig aber auch für die Sicherheit sorgen zu müssen“.

Zu der aktuellen Stolperste­in-Diskussion in Viersen wollte er auf Anfrage unserer Redaktion nicht Stellung beziehen, weil er diese nicht verfolgt habe, so Wagner. Grundsätzl­ich unterstütz­e seine Gemeinde aber die Verlegung von Stolperste­inen. Wagner: „Die Stolperste­ine sind ein wichtiges Projekt. Sie sorgen dafür, dass man stehen bleibt und sich ins Bewusstsei­n ruft: ,Hier ist eine Lücke entstanden.’“

 ?? FOTO: VEREIN FÜR HEIMATPFLE­GE ?? Blick von der Bahnhofstr­aße (heute Martin-Luther-Straße) in Richtung Viersener Straße. Auf der linken Seite die evangelisc­he Christuski­rche, auf der rechten Seite die Synagoge. Am 9. November 1938 ging die Synagoge in Flammen auf.
FOTO: VEREIN FÜR HEIMATPFLE­GE Blick von der Bahnhofstr­aße (heute Martin-Luther-Straße) in Richtung Viersener Straße. Auf der linken Seite die evangelisc­he Christuski­rche, auf der rechten Seite die Synagoge. Am 9. November 1938 ging die Synagoge in Flammen auf.
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FOTO: WAGNER Die Thora-Rolle aus Dülken wird in Krefeld ausgestell­t.
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FOTO: KREISARCHI­V Wilhelm Veit bewahrte die Thora-Rolle bis Kriegsende auf.
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RP-FOTO: KNAPPE Rabbi Yitzchak Mendel Wagner hielt in Viersen einen Vortrag.

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