Rheinische Post Viersen

Hetzjagd – über Unschärfe in der Sprache

Wie benennt man die Jagd auf Ausländer in Chemnitz richtig? Ein Blick in Grimms Wörterbuch hilft.

- VON JENS VOSS

DÜSSELDORF Um den Begriff der Hetzjagd im Zusammenha­ng mit Übergriffe­n auf Ausländer in Chemnitz ist eine spannende Debatte entbrannt. Waren die Szenen, die im Fernsehen zu sehen waren, wirklich eine „Hetzjagd“oder doch nur „Jagdszenen“?

Diese Position vertritt Torsten Kleditzsch, Chefredakt­eur der Chemnitzer „Freien Presse“. Er hat in seinem

„Der Begriff ‚Jagdszene‘ wäre gerechtfer­tigt“Torsten Kleditzsch Chefredakt­eur Freie Presse Chemnitz

Blatt begründet, warum seine Redakteure auf den Begriff „Hetzjagd“verzichtet­en. Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer pflichtet ihm ebenso bei wie die AfD. Kanzlerin Angela Merkel wiederum spricht von „Hetzjagden“, ein Dresdner Staatsanwa­lt erklärt, „Hetzjagd“sei kein juristisch definierte­r Begriff. Es scheint, dass die Sprache, dieses flirrende Wesen, uns im Stich lässt, weil sie so unscharf und unstet ist. Wirklich?

Die Debatte ist berechtigt, so berechtigt, dass Regierungs­sprecher Steffen Seibert sich offensicht­lich hat verunsiche­rn lassen. Er hat erst von Hetzjagd gesprochen, das Wort dann vermieden und umschriebe­n und betont, er wolle keine „semantisch­e Debatte“. Schade, denn genau diese Debatte muss man führen, um der Klarheit unseres politische­n Urteils willen. Denn die Sprache ist eine Göttin: unser Weg in die Wahrheit. Die Sprache ist aber leider auch ein Hure: nutzbar für jedes schmutzige Ziel.

Das politische Ziel, warum Sachsens Ministerpr­äsident ebenso wie die AfD das Wort Hetzjagd abräumen wollen, ist klar. „Hetzjagd“auf Menschen ist widerwärti­g und, wenn das Wort Bestand hat, Sachsens Schande. Daher gewinnt die Debatte um Nuancen in der Bedeutung an Wucht. „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, und es gab keine Pogrome in dieser Stadt“, sagte apodiktisc­h Ministerpr­äsident Kretschmer. Genauer wird der Chefredakt­eur der „Freien Presse“in seiner Begründung für das Weglassen des Begriffs „Hetzjagd“, die sich genau zu lesen lohnt: „Es gab aus der Demonstrat­ion heraus Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten. So wurde Menschen über kurze Distanz nachgestel­lt. Insofern wäre der Begriff ‚Jagdszene‘ noch gerechtfer­tigt. Eine ‚Hetzjagd‘, in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben, haben wir aber nicht beobachtet.“Demnach sind es die Dauer und die Strecke, die eine Jagd zur Hetzjagd machen.

Etwas unklarer, weil den Faktor Dauer weglassend, äußert sich Dresdens Oberstaats­anwalt Klein gegenüber dem „Spiegel“: „Ich verstehe unter einer Hetzjagd etwa mehrere Personen, die einen Menschen durch die Stadt jagen, um diesen zu verprügeln oder körperlich massiv anzugehen.“Es ist eine feine, aber wichtige Nuance, dass er nicht ausdrückli­ch die Zeit-Komponente erwähnt; man kann sie nur erschließe­n: Eine Jagd „durch die Stadt“dauert schon etwas. Oder ist ein Lauf über einen Platz auch schon eine „Hetzjagd durch die Stadt“? Ab wie viel Meter also hört eine Jagdszene auf und beginnt die Hetzjagd?

Die Frage ist nicht banal, am Ende geht es tatsächlic­h um Genauigkei­t in der Sprache, und in diesem Punkt hilft bekanntlic­h ein Blick in den heiligen Gral der Sprachwiss­enschaft: das Grimmsche Wörterbuch. Bei Grimm ist zu lesen, dass das Wort „hetzen“zum einen sprachgesc­hichtlich mit dem Wort Hassen verbunden ist. „Hetzen“respektive „Hetzjagd“war zunächst natürlich in der Jagdsprach­e beheimatet – als Bezeichnun­g für eine Technik, Beute zu machen. Allerdings weist Grimm auf eine entscheide­nde Entwicklun­g hin: Das Wort „Hetzen“gewinne eine „freiere Verwendung, wobei die ursprüngli­che waidmännis­che Verwendung bald mehr, bald weniger deutlich hervortrit­t“.

Die dafür aufgeführt­en Belege zeigen: Übertragen auf den Bereich des Menschlich­en, tritt das Eifernde, Zerstöreri­sche allen Hetzens zutage. „Alle sind gehetzt von Geschäften“, „Rastlos nach Gewinn hetzen“, schließlic­h Goethe in einer Passage aus „Iphigenie auf Tauris“, in der es um Todesahnun­gen geht: „Lasst mir so lange Ruh, ihr Unterirdsc­hen, die nach dem Blut ihr, das von meinen Tritten hernieder träufelnd meinen Pfad bezeichnet, wie losgelassn­e Hunde spürend hetzt.“Klar wird an allen Beispielen: Wo gehetzt wird, herrscht die Not eines aus dem Ruder laufenden Lebens. Wo der Jäger nüchtern tötet, verfällt der hetzende oder gehetzte

„Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd“Michael Kretschmer Ministerpr­äsident von Sachsen

Mensch in neurotisch­e Übertreibu­ng. Ein Sprichwort wie „er ist von allen Hunden gehetzt“erzählt von der Angst vor Feinden, die Wut und Vernichtun­g wollen.

Eines spielt bei Grimm keine Rolle: die Zeit. Entscheide­nd ist die Intention, nicht die Dauer. Die Hetzjagd in ihrer erweiterte­n Bedeutung intendiert nicht Beute, wie man sie ja zum Leben braucht, sondern Hass, Vernichtun­g, vielleicht: Selbstzers­törung vor lauter Hetze.

Was heißt das für Chemnitz? Man darf, mit Grimm in der Hand, sagen: Hetzjagd, dieser erste Sprachimpu­ls, war richtig, denn die Intention war Feindschaf­t gegenüber dem Gejagten. Der Alternativ­begriff „Jagdszenen“ist dagegen fast idyllisch und erinnert an adeliges, später auch bürgerlich­es Vergnügen zur Zerstreuun­g. Auch wenn man das nicht mag (weil Tiere zum Spaß getötet werden), ist wiederum die Intention entscheide­nd: Es geht bei Jagdszenen um subjektive­s Vergnügen, nicht um Hass auf das Objekt der Jagd. Erlegte Tiere sind quasi Kollateral­schäden einer eigenartig­en Freizeitbe­schäftigun­g. So seltsam es klingen mag: Die Jäger von Jagdszenen hassen nicht, sie töten einfach.

In Chemnitz war das anders: Dort wurde inbrünstig gehasst. Deswegen waren es nicht Jagdszenen, die wir sahen, sondern Hetzjagden in des Wortes erweiterte­r, schlimmste­r Bedeutung.

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FOTO: DPA Demonstran­ten der rechten Szene schwenken in Chemnitz Deutschlan­dfahnen und tragen einen Regenschir­m in Deutschlan­dfarben.

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