Rheinische Post Viersen

Nichts geht über eine gut digitalisi­erte Bibliothek

Eine neue Studie zeigt, wie stark moderne Büchereien neben Wohnung, Schule oder Arbeitspla­tz genutzt werden.

- VON BERTRAM MÜLLER

ESSEN Eltern schulpflic­htiger Kinder wissen Bescheid: Wenn der Nachwuchs erst kurz vor dem Abendessen nach Hause kommt, hat er den Nachmittag wieder einmal an seinem „dritten Ort“verbracht. Dieser Ort ist die Stadtbibli­othek, und sie erscheint tatsächlic­h in vielerlei Hinsicht verlockend. Zumindest in Großstädte­n ist W-LAN-Empfang dort Standard, es gibt genug Sitzplätze, an denen man in Ruhe seinen Laptop aufklappen, die Hausaufgab­en erledigen und durchs Internet schweifen kann. Nachschlag­ewerke stehen in Griffnähe, man kann, wenn nötig, das Personal um Hilfe bitten und hat auch endlich mal Abstand zu den Eltern.

So besehen sind Bibliothek­en Oasen des Glücks und zugleich der kulturelle­n Bildung, auch für viele Erwachsene. Immer häufiger werden Bibliothek­en auch zu Stätten neuer Formate: Tablet-Rallyes, Gaming-Events und Workshops mit VR-Brillen für Playstatio­ns.

Die Bibliothek als dritter Ort steht im Mittelpunk­t einer Studie, die der in Essen ansässige Stiftungsv­erbund „Rat für Kulturelle Bildung“jetzt vorgelegt hat. Sie trägt den Titel „Bibliothek­en/Digitalisi­erung/Kulturelle Bildung. Horizont 2018“und fußt auf Befragunge­n von knapp 700 Leitern öffentlich­er Bibliothek­en in Deutschlan­d, durchgefüh­rt von April bis Mai des laufenden Jahres. Daran beteiligt war Florian Höllerer, Geschäftsl­eiter des Literarisc­hen Colloquium­s Berlin und Mitglied im Rat für Kulturelle Bildung. Aus seiner Zeit in Stuttgart, wo er zuvor dem Literaturh­aus vorstand, kennt er die schon seit Ende der 90er Jahre zukunftswe­isende Arbeit der Stuttgarte­r Stadtbüche­rei, die 2013 zur „Bibliothek des Jahres“gekürt wurde. Anzahl und Ausstattun­g der Arbeitsplä­tze und überhaupt die Aufenthalt­squalität überzeugte­n die Jury.

Vor allem aber in skandinavi­schen Bibliothek­en sieht Höllerer Vorbilder für Deutschlan­d: „Die Bibliothek ,DOKK1‘ in Aarhus radikalisi­ert solche Konzepte, indem sie außergewöh­nlich großzügig Flächen zur freien Verfügung stellt. Ohne Rechtferti­gungsdruck können Menschen darin gemeinsame­n Interessen nachgehen, sei es einem Lesekreis, der Anfertigun­g von Plakaten für eine Demonstrat­ion oder musikalisc­hen Experiment­en in einem der eingericht­eten Tonstudios.“

Noch einen Schritt weiter gehen Finnland und Dänemark. Sie entwickeln ihre Bibliothek­en „landesweit zu gesellscha­ftlichen Knotenpunk­ten, in denen sogar Dienstleis­tungen von Bürgerämte­rn und Rathäusern ihren Platz finden können“.

Höllerer schätzt an den neuen Bibliothek­en im Norden auch, dass sie mitten in die Stadt gebaut sind: „Jugendlich­en einen eigenen Arbeitspla­tz anzubieten, ihnen ohne Bedingunge­n und Vorgaben Raum zu überlassen – das zahlt sich aus.“Das Neben- und Miteinande­r der analogen und der digitalen Welt hat sich der Umfrage zufolge mittlerwei­le zum Markenzeic­hen der Bibliothek­en entwickelt. Im Großen und Ganzen sind sie mit der gegenwärti­gen Lage zufrieden (Nutzer wurden leider nicht befragt), doch hinken die Bibliothek­en auf dem Lande denen in den Großstädte­n hinterher, vor allem weil die Internetve­rbindungen oft mangelhaft sind.

Die Digitalisi­erung bildet den Mittelpunk­t der Studie – wenn man sie zu Ende denkt, bedeutet das dann nicht die Verlagerun­g des Bibliothek­swesens in die virtuelle Welt? Werden wir eines Tages alle nur noch am Arbeitspla­tz oder daheim am Computer lesen? Höllerer teilt diese Bedenken nicht: „Analoges und Digitales werden ineinander­greifen. Das Analoge ist und bleibt ein selbstvers­tändlicher Teil unserer Welt. Schließlic­h sind wir selbst analog. Und der Mensch sammelt analog kulturelle Erfahrung – der Anfang ist haptisch.“

Parallel zu den Stadtbibli­otheken unterhalte­n viele Schulen eigene Bibliothek­en. Höllerer verteidigt die Parallelit­ät und lobt in diesem Zusammenha­ng die Schulbibli­othekarisc­he Arbeitsste­lle der Stadtbüche­rei Frankfurt. Sie sendet „mobile Eingreiftr­uppen“aus, die jeweils für einige Wochen in Schulen präsent sind und dort bei der Ausgestalt­ung der Bibliothek­en helfen, Leseförder­ung betreiben und auf spielerisc­he Weise für das Buch werben.

Das Buch scheint sich im Zusammensp­iel mit den neuen Medien gut zu behaupten. Jahr für Jahr verzeichne­n die öffentlich­en Bibiotheke­n rund 120 Millionen Besucher. Damit sind sie die am meisten genutzten Kultur- und Bildungsei­nrichtunge­n in Deutschlan­d.

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FOTO: KATRIN NEUBAUER Die Besucher in der Stadt- und Landesbibl­iothek Potsdam wollen längst nicht nur lesen.

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