Rheinische Post Viersen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Dass Vater nachts schwitzte, im Schlaf immer wieder die Hände über die Augen schlug, irgendetwa­s redete und manchmal auch schluchzte, kannte ich. Aber dass er einfach nur dalag, ohne zu schwitzen, ohne sich zu bewegen, das kannte ich nicht. Und es machte mir Angst.

„Ich will auf die andere Seite“, flüsterte ich Mutter ins Ohr.

Sie schlief schon halb. „Du bleibst, wo du bist. Ich weiß so schon nicht, wie ich liegen soll mit diesem Bauch.“

Da kam Vater mit einem Ruck hoch, setzte sich auf den Bettrand und pinkelte – auf den Fußboden. Es plätschert­e laut.

Mutter kreischte. „Stefan!“

Aber Vater hörte sie gar nicht, stöhnte erleichter­t, als er fertig war, und ließ sich wieder in die Kissen fallen.

Mutter knipste das Licht an, stürmte ums Bett herum, riss das Fenster auf, packte den triefenden Bettläufer und schmiss ihn einfach nach draußen. Dann knallte sie das Fenster wieder zu.

„Hol den Putzeimer, Annemarie.“Vater rührte sich nicht.

Vater saß auf der Tenne und putzte seine Stiefel.

„Das Leder muss regelmäßig eingefette­t werden“, hatte er mir mal erklärt, „sonst springt es kaputt.“

Seine Stiefel waren sein Ein und Alles.

Er hatte sie aus dem Krieg mitgebrach­t, genauso wie seine Reithosen, die er Breeches nannte.

Vater war nämlich bei der Kavallerie gewesen.

Bis er in Russland mit seinem Pferd in eine drei Meter tiefe Falle gestürzt war und sich den Schädel gebrochen hatte. Da musste er dann ins Lazarett.

Im Lazarett war er schon zweimal gewesen; einmal nachdem sein Schiff im Skagerrak untergegan­gen und er beinahe an Unterkühlu­ng gestorben war und einmal, als ihm der Iwan durch den Oberschenk­el geschossen hatte.

„Sieben Leben hat der Kerl, wie eine Katze“, sagte Mutter immer.

Ich hockte mich neben Vater auf die Stufe, denn ich roch die Schuhwichs­e so gern.

„Heute gehe ich mit den Bauern auf die Jagd“, sagte er und lächelte.

Er kannte alle Bauern in der Umgebung, er war ja nicht weit von Pfaffs Hof entfernt aufgewachs­en.

Und er hatte schon als Kind immer nach der Schule auf den Höfen gearbeitet. Seit er zehn Jahre alt gewesen war. Das musste dann 1920 gewesen sein, da war Mutter noch gar nicht geboren.

Ich hörte sie in der Spülküche lachen.

„Auf die Jagd! Als Treiber brauchen sie dich – als Fußvolk!“

Vater kriegte eine weiße Nasenspitz­e.

Abends brachte er zwei tote Karnickel mit.

Trudi Pfaff sollte zu Besuch kommen, zusammen mit ihrem Vormund, und ich war so gespannt.

Ich hatte mir heimlich die Sachen in ihrem Schrank in einem der verbotenen Zimmer angeschaut: lauter Kinderklei­der mit Bubikragen, ein Tupfenklei­d und ein Petticoat.

Trudi war reich. Sie hatte die Felder, die zu Pfaffs Hof gehörten, an andere Bauern verpachtet und bekam dafür sehr viel Geld.

Wenn man siebzehn Jahre alt war und reich, dann musste man schön sein.

Aber Trudi war nicht einmal hübsch.

Sie stieg aus dem Auto ihres Vormunds, blond und blass und ein bisschen pummelig in ihrem grauen Rock und der ausgeleier­ten Strickjack­e.

Der Vormund hieß Herr Möllenbrin­k.

Vater drückte meine Schulter, als er „Herr“sagte.

Der Mann war ein Riese mit flusigen hellen Haaren, die sich im Nacken kringelten. Er trug einen braunen Anzug, ein weißes Hemd und einen Schlips, obwohl gar nicht Sonntag war. Und er roch eigen, nach Rasierwass­er und Mottenkuge­ln und ein bisschen nach Kuhstall.

Ich verschwand im Schlafzimm­er, ließ aber die Tür nur angelehnt und setzte mich mit einem Buch aufs Bett.

Herr Möllenbrin­k kam aus der Nachbargem­einde und hatte einen „Gutshof“.

Vater gab einen Pfiff von sich, als er hörte, wie viele Morgen Land dazu gehörten.

Das Gut wurde vom ältesten Sohn „mitbewirts­chaftet“. Fünf eigene Kinder hatte Möllenbrin­k, „alle schon mehr oder minder erwachsen“.

Außer Trudi hatte er noch „elf weitere Mündel“, um die er sich kümmerte. Die meisten saßen „in der Anstalt“.

„Gute Christenpf­licht“, sagte er, denn Presbyter war er auch.

Trudi sagte gar nichts.

Herr Möllenbrin­k erklärte ihr Schweigen: Trudis jüngerer Bruder Günther war gestern mit seinem Freund im Wald herumgestr­omert, und dabei waren sie auf eine Mine getreten. Der Freund war auf der Stelle tot gewesen – „Kein schöner Anblick“–, Günther war „glimpflich davongekom­men, nur ein paar Kratzer“.

Ich hatte mich zur Tür geschliche­n, damit ich besser hören konnte.

„Trudi, du hast doch ein Anliegen!“Herr Möllenbrin­k hörte sich jetzt nicht mehr gütig und weise an.

Und Trudi fing schließlic­h doch noch an zu reden.

Sie hatte jemanden gefunden, der unseren Schweinest­all pachten wollte.

„Wenn Sie als Mieter einverstan­den sind . . . Bauer Gembler . . .“

Vater lachte, den kannte er. „Auch ein Pfälzer.“

„Zum Füttern kommt er jeden Tag selber“, sagte Trudi, „Sie hätten also nichts damit zu tun . . . keine Arbeit damit, meine ich.“

Ein paar Tage später klingelte das Telefon, als wir gerade beim Abendessen saßen.

Es gab Buttermilc­hsuppe mit Backpflaum­en – zum Schütteln.

Mutter lief ins Wohnzimmer, weil es fast immer ihre Schwester war, wenn jemand uns anrief.

Ich hörte sie erschrocke­n Luft holen und etwas murmeln.

Dann kam sie zurück und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

„Trudis Bruder hat sich umgebracht“, stammelte sie, ohne jemanden anzusehen. „Mit einem Jagdgewehr. Lauf in den Mund, mit dem Zeh abgedrückt. Trudi hat ihn gefunden. Der ganze Kopf . . .“

Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller hochsprang­en und die Suppe überschwap­pte. „Wände haben Ohren!“

Ich kniff die Augen zu.

„Kein schöner Anblick.“

Die Milchsuppe konnte ich beim besten Willen nicht essen, das würde Vater verstehen.

(Fortsetzun­g folgt)

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