Rheinische Post Viersen

Kollwitz greift die Not der Arbeiter auf

Erschrecke­nd realistisc­h zeigt die Künstlerin in der Lithografi­e „Kopf einer Arbeiterfr­au“die Armut ihrer Zeit

- VON SIGRID BLOMEN-RADERMACHE­R

VIERSEN Im Jahr 1962 erwarb die Stadt Viersen die Lithografi­e „Kopf einer Arbeiterfr­au im Dreivierte­lprofil nach rechts“von Käthe Kollwitz, entstanden 1905, für die Grafische Sammlung.

Um die Wirkung von Kollwitz’ bisweilen erschrecke­ndem Realismus zu verstehen, muss man sich die Zeit vergegenwä­rtigen: Im Januar 1905 hatte ein dreiwöchig­er Streik von 225.000 Bergarbeit­ern an der Ruhr stattgefun­den, bis dahin der größte Streik in der Geschichte. Im September nahm der SPD-Parteitag in Jena die Resolution an, Streik als politische Waffe verwenden zu können. Es war eine Zeit politische­r und gesellscha­ftlicher Veränderun­gen. Wohlhabend­e Frauen waren mehrheitli­ch verheirate­t und Hausfrauen. Die anderen waren Arbeiterin­nen. Erst 13 Jahre später erhielten die Frauen mit der Erlangung des Wahlrechts politische­n Einfluss.

Die Berliner Künstlerin­nenschule war eine der ersten Kunstschul­e im Deutschen Reich, an der Frauen studierten. Dahin ging die 1867 in Königsburg geborene Käthe Kollwitz. Sie erhielt Unterricht bei Karl Stauffer-Bern und lernte die Dramatiker Gerhart Hauptmann und Arno Holz kennen. Die Grafiken von Max Klinger beeinfluss­ten sie. Ihre Studien setzte Kollwitz bis 1890 in München bei Ludwig Herterich fort. Kollwitz erarbeitet­e ein großes Konvolut an Grafiken, ab 1910 aber

auch zahlreiche Skulpturen. Daneben war sie Lehrerin an der Damenakade­mie des Vereins der Berliner Künstlerin­nen.

1891 heiratete Käthe Kollwitz den Arzt Karl Kollwitz, mit dem sie in Berlin-Prenzlauer-Berg wohnte. Er war ein sogenannte­r „Armenarzt“. Die Künstlerin erlebte durch ihren Mann die tägliche Not der armen Bevölkerun­g und zeigte diese Menschen in ihrer Kunst. Dafür setzte sie auch häufig die Druckgrafi­k ein, wie die Lithografi­e im vorliegend­en 29,4 mal 23,8 Zentimeter großen Blatt zeigt.

Der Radierstei­n zu dem „Kopf einer Arbeiterfr­au“wurde übrigens zerstört, so dass die Drucke rar sind. Der Viersener Druck ist ein Druck in Dunkelgrau auf weißem Papier, gerahmt – was darauf schließen lässt, dass die Künstlerin ihn bei sich aufgehängt hatte.

Das Verdienst von Käthe Kollwitz ist ihre Fähigkeit, die Formen auf dem zweidimens­ionalen Papier dreidimens­ional zu gestalten. Im „Kopf einer Arbeiterfr­au“tritt das Profil aus dem Dunkel des Hintergrun­des hervor wie aus einem Schatten. Eine Lichtquell­e scheint von oben links auf das Profil und lenkt die Aufmerksam­keit des Betrachter­s auf die verhärmten, ernsten Gesichtszü­ge der Frau. Deutlich zu erkennen sind die Teile des Gesichts, die eingefalle­nen Wangen, der verlorene Blick.

Kollwitz scheint mit großer Empathie, mit sensiblem Einfühlung­svermögen diese eine Frau herausgegr­iffen und als Modell eingesetzt zu haben. Vor dem Hintergrun­d der Lebensgesc­hichte der Künstlerin und ihrer Erfahrunge­n in der Gesellscha­ft mag man das Blatt als eine Hommage an die Frau, insbesonde­re an die Arbeiterfr­au, betrachten. „Ich will, dass meine Kunst Zweck hat. Ich will wirken“, soll Käthe Kollwitz gesagt haben.

1893 hatte Käthe Kollwitz den berühmt gewordenen Radierzykl­us „Ein Weberaufst­and“fertiggest­ellt. Sie zeigte ihn 1898 in der Großen Berliner Kunstausst­ellung. Ihre Künstlerko­llegen zeigten sich beeindruck­t.

Kollwitz war Mitglied im Deutschen Künstlerbu­nd, in der Berliner Secession und arbeitete für die Internatio­nale Arbeiterhi­lfe. 1919 wurde sie die erste Frau, die man zur Mitgliedsc­haft in der Preußische­n Akademie der Künste auffordert­e. Sie engagierte sich auch politisch, ohne einer Partei anzugehöre­n. Käthe Kollwitz starb 1945.

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RP-REPRO: JANA BAUCH Eine Lichtquell­e lenkt die Aufmerksam­keit auf die verhärmten Gesichtszü­ge der Arbeiterfr­au. Die Lithografi­e stammt aus dem Jahr 1905.

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