Schwarz-weiß in Farbe
Die nachträgliche Kolorierung historischer Fotos gilt als respektlos, und hässlich sind die Ergebnisse oft obendrein. Beides ändert nun eine junge Künstlerin aus Brasilien. Ihre Arbeit ist akribisch, das Resultat spektakulär.
Nichts war je schwarzweiß. Das wirkt wie eine Nullaussage, ist es aber nicht. Selbstredend ist jedem klar, dass in den Zeiten, die uns nur aus vorsintflutlich wirkenden Fotos bekannt sind, die Welt nicht tatsächlich bloß aus Grautönen bestand. Und doch ist da diese Distanz zu dem Geschehen, das man zwangsläufig als abstrakt empfindet, gefiltert, stilisiert. Personen wirken eher wie historische Figuren, entrückte Charaktere aus eben „grauer“Vorzeit.
Fehlt Farbe, fehlt uns auch der Bezug zum Motiv.
Anfang des Jahres veröffentlichte die KZ-Gedenkstätte Auschwitz ein kleines Foto, das Schlagzeilen machte in aller Welt, weil es erreichte, was unmöglich schien: Die Eröffnung eines neuen Blicks auf den Holocaust, den man aus allen Winkeln erforscht und vermittelt gewesen wähnte. Das Foto zeigt ein junges Mädchen direkt nach der Ankunft im KZ Auschwitz-Birkenau 1942, das Haar rasiert, die Häftlingsnummer 26949 auf der grob genähten, viel zu weiten Kleidung. Das Besondere: Ihr Gesicht ist nicht weiß, sondern nur blass, ihre Unterlippe sichtbar blutig geschlagen. Aus ihren dunkelbraunen Augen sprechen Pein und Unglaube, aber auch Würde und Verachtung für die Täter. Ihr Name ist Czesława Kwoka, und man kann den Blick nicht von ihr abwenden. Sie wirkt lebendig, und das kann man als Trost, ja Triumph über die Nazis
„Ich will Brücken in die Vergangenheit bauen“
Marina Amaral
verstehen, die die 14-Jährige wenige Wochen später töteten.
Die verblüffend naturgetreue Kolorierung ist das Werk von Marina Amaral (24) aus Belo Horizonte, Brasilien, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hat und nun ein Buch mit rund 200 behutsam neu interpretierten Fotos herausbringt.
„Menschen, die man in Farbe sieht, kann man sich viel leichter nähern“, sagt sie. „Die Opfer des Holocaust waren nicht nur Zahlen in einer Statistik, sondern Menschen wie du und ich. Aus Fleisch und Blut. Menschen mit Träumen, Familien, Freunden.“
„Brücken in die Vergangenheit“wolle sie bauen, sagt Amaral, die sich schon als Zehnjährige für das Bildbearbeitungsprogramm Photoshop interessierte. Dafür brauche es neben den technischen Fähigkeiten Dreierlei: Respekt für die historischen Dokumente, Geduld und viel Recherche. Einem einfachen Bild kann sie in 40, 50 Minuten stimmig Farbe einhauchen. Bei komplexeren Aufnahmen hingegen kann die „Rückübersetzung“der diversen Grauschattierungen Dutzende Stunden dauern. Schicht um Schicht digitaler Farbe fügt sie hinzu, stets darauf bedacht, die technischen Mängel der Aufnahmen wie Unschärfe, Flecken und Kratzer nicht versehentlich zu verbessern. Um zu vermeiden, dass die Fotos am Ende aussehen wie schlecht ausgemalte Kinderbilder oder gar erste, grelle Schminkversuche, versucht die Tochter einer Geschichtslehrerin durch Expertenhilfe den Farbton jeder Uniformjacke, jeder Medaille und jedes Materials zu recherchieren und nachzuempfinden.
Ende 2017 zeigte das Deutsche Fußball-Museum in Dortmund ihre Versionen etwa des „Sportfotos des Jahrhunderts“, das Uwe Seeler zeigt, den Kapitän der Nationalelf, nach dem 2:4 gegen England im EM-Finale 1966. Auch diese Ikone der Sportfotografie wirkt um ein Vielfaches intensiver, weil man Seeler über echten, grünen Rasen schleichen 22. Oktober 1895: Am Pariser Kopfbahnhof Montparnasse überfährt ein Lokführer Stoppsignale, Barrieren und einen Bahnsteig. Die Lokomotive stürzt mehrere Meter in die Tiefe und erschlägt dabei eine Zeitungsverkäuferin. Start eines Doppeldeckers der US-Flugpioniere Orville und Wilbur Wright in Kitty Hawk, North Carolina, um 1900. Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand. Das Attentat auf ihn löste den Ersten Weltkrieg aus. Skurriles Werbefoto für ein Grammofon, 1909. Adolf Hitler bei einer Kundgebung in Dortmund in den 1940er Jahren. 14. August 1945: Die Kapitulation Japans wird bekannt, auf dem Times Square in Manhattan küsst ein Matrose spontan eine junge Frau.
Rechts: das Original Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, 1943. Das Gesicht der Weltwirtschaftskrise: Erntehelferin Florence Owens Thompson (32) im März 1936 mit drei ihrer zehn Kinder in Kalifornien. sieht, in schwarzer Hose und Schuhe und weißem Trikot, ohne einen Blick für die auf Hochglanz polierte Tuba des Kapellenmusikers neben ihm. Auch er weniger Denkmal und mehr Mensch.
Und jetzt ist da dieses Buch: „Die Welt von gestern in Farbe“, mit rund 200 Fotos aus der Zeit zwischen 1850 und 1960. Eine starke Mischung aus meist historischen Ereignissen und Personen: Hitler und Stalin sind darunter, Mao, Marx, Mussolini, aber auch Mandela und Marilyn Monroe, Rasputin und Leni Riefenstahl, Elvis und die junge Elizabeth II.
Der Indianerhäuptling Sitting Bull blickt dem Leser bis in die Seele, die Flugpionierin Amelia Earhart scheint nur einen Sekundenbruchteil davor, sich aus ihrem Cockpit und dem gesamten Buch heraus zu schwingen. Die Jahrhundert-Forscherin Marie Curie verschwindet fast in ihrem Labor und strahlt doch zugleich die Präsenz und Hartnäckigkeit aus, die sie in ihrer Männerdomäne benötigte.
Herrlich exotisch wirkt der Eiffelturm im Bau, frisch und um ein Vielfaches realer die Bildikonen vom Aufstand im Warschauer Ghetto, der Explosion des Zeppelins „Hindenburg“, dem kuriosen Unfall des Zugs, die 1895 am Pariser Kopfbahnhof Montparnasse alle Absperrungen durchbrach und zehn Meter tief auf den Vorplatz stürzte.
Schnörkellos und leicht verdaulich eingeordnet werden die Fotos vom britischen Historiker Dan Jones, der etwa fallen lässt, dass Orville Wright, 1903 gemeinsam mit seinem Bruder Erfinder des Motorflugs,
Die Bilder wecken intensive Gefühle – Empathie, Respekt, Horror
noch die Perversion seines Traums vom Fliegen miterlebte – Luftangriffe, zuletzt mit Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Die Bilder wecken intensive Gefühle. Respekt für die Erbauer des Suezkanals, der Transsibirischen Eisenbahn, der Freiheitsstatue. Belustigung über die kuriosen Haltungen der 100-Meter-Sprinter bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896. Hypnotisierend ist die Aufnahme aus einer türkisen Eishöhle nahe des Südpols. Prächtig ein Schnappschuss von Leo Tolstoi mit seinen Enkeln. Tragikomisch ein Gruppenbild von neun europäischen Königen in ihren operettenhaften Kostümen von 1910 angesichts des Wissens um den folgenden Weltkrieg. Apropos: Immer wieder thematisieren Amaral und Jones die Geißel des Kriegs und seine Folgen für Soldaten wie Zivilisten, vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis zur Landung in der Normandie. So viel Ehrlichkeit über die prägenden Kräfte dieser Zeit muss sein, nicht zuletzt als Mahnung.
Ein rundum gelungenes Werk, weil nicht nur die Einzelaufnahmen überzeugen, sondern auch ihre Auswahl und Anordnung. Das Porträt des „Roten Barons“Manfred von Richthofen etwa, aus dem spricht, dass das adelige Flieger-Ass nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn über den höllischen Gemetzeln schwebte, ist eingerahmt von den Fotos einfacher Soldaten in den Schützengräben.
Tröstlich, dass das Buch nicht mit der Doppelseite des apokalyptischen Atomtests der US-Militärs vor dem Bikini-Atoll endet, sondern mit dem Porträt eines Kosmonauten.